Aufstieg oder Ehrenrunde? Schalkes pure Lust am Überleben

Gelsenkirchen · Schalke taumelt vorwärts: nach vielen Hochs und Tiefs weckt ein 5:0-Sieg bei Erzgebirge Aue neue Aufstiegshoffnungen. Realistischer ist ein weiteres Jahr in Liga zwei – über das sich Königsblau freuen sollte.

 Schalkes Marvin Pieringer jubelt nach seinem Treffer beim 5:0-Sieg in Aue.

Schalkes Marvin Pieringer jubelt nach seinem Treffer beim 5:0-Sieg in Aue.

Foto: dpa/Robert Michael

Die Nachricht seiner Entlassung überbrachte ihm seine Frau. „Ich war gerade im Supermarkt, als das Telefon klingelte“, plauderte Dimitrios Grammozis  mit der Gelassenheit eines Noch-immer-Schalke-Trainers. Die Eheleute Grammozis verfügen über besser unterrichtete Quellen als jenen Fake-Account, der das Aus für den 43-Jährigen exklusiv auf Twitter vermeldet und damit Sport1 hereingelegt hatte, wo die Falschmeldung auf den Sender ging.

Hätte er geahnt, welches Spiel ihn erwarten würde, wäre seine Laune sogar noch besser gewesen. Schalke holte im Erzgebirge ein 5:0 – so hoch hatte S04 überhaupt seit 43 Jahren in keiner Liga mehr gewonnen. Doch wo steht der Klub nach diesem Kantersieg? Die Position für die Kampagne Wiederaufstieg ist ordentlich, nach einem halben Jahr in Liga zwei spricht aber mehr dafür, dass Königsblau dem Unterhaus erhalten bleibt.

Um ein Blutbild des Absteigers zu ermitteln, kommt man nicht um das Heimspiel gegen Nürnberg Anfang Dezember herum, als sich ein Schalker Not-Aufgebot gegen starke Nürnberger zu einem 4:1-Sieg aufschwang. Regelmäßige Beobachter staunten nicht nur über das Resultat, sondern vor allem über urplötzlich begeisternden Vorwärtsfußball. Beim Hamburger SV sprang anschließend nur ein 1:1 heraus – das Ergebnis verschwieg aber, dass Schalke die Gastgeber schier erdrückte. Dasselbe Resultat gegen Holstein Kiel indes: eine glatte Enttäuschung. Jetzt ein 5:0, das unweigerlich Hoffnungen schürt. S04 taumelt seit dem ersten Spieltag durch die Saison. Keine Ahnung echter Krise, die die Knappen nicht wegpunkten konnten, keine Euphorie, die nicht gleich abgewürgt wurde.

Nicht vollständig überraschend, dass manche den Trainer und seine Spielidee vor allem für die Dämpfer verantwortlich machen. Vergleichsweise neu ist, dass eine Spielidee sogar deutlich wahrzunehmen ist: Linksverteidiger Thomas Ouwejan gibt dabei den Spielmacher. Die Frage, wann überhaupt mal einer Flanken und Freistöße so genau adressiert hat, werden regelmäßige Beobachter wahlweise mit Schulterzucken oder Christian Pander beantworten. Dass er mit diesen Fähigkeiten vorzugsweise Zweitliga-Lewandowski Simon Terodde sucht wie ein Football-Quarterback seinen Lieblingsreceiver, ist so plausibel wie berechenbar. So verdiente sich Schalkes Vortrag in der Hinrunde das Etikett „Heldenfußball“ – was besser klingt als es gemeint ist: Siege mit individueller Klasse zu erzwingen.

Um den Ouwejanschen Linksdrall des Systems auszugleichen, verpflichtete Rouven Schröder zuletzt Rechtsverteidiger Andreas Vindheim. Der kam von Sparta Prag und stellte sich in Aue prompt mit einem Tor vor – an drei weiteren war er beteiligt. Womit man nicht umhin kommt, Schröders Gesamtwerk zu würdigen, der unter schwierigsten Bedingungen eine Zweitligamannschaft aufgestellt hat, die glaubwürdig Teamgeist verkörpert.

Ob sogar noch mehr drin ist? Fraglich. An den ersten 20 von 34 Spieltagen stand Schalke nie auf einem direkten Aufstiegsplatz. Aktuell trennen Königsblau mehr Punkte von Platz eins als von Platz neun – die Spitzengruppe, das ist exakt die halbe Liga. Die Aussicht auf den Relegationsrang ist ebenfalls düster: Wenn es bloß schlecht genug läuft, bitten am Ende der Saison Wolfsburg, Hertha oder Mönchengladbach zum Einzeldate.

Für den Augenblick sollte Schalke daher ein vorsichtiger Schulterblick in die jüngere Vergangenheit genügen, um den Zwischenstand freudig zu umarmen. Auch ein weiteres Jahr in Liga zwei würde den Verein wohl nicht dahinraffen. Bernd Schröder ist daher der wichtigste Wintertransfer. Der vormalige Leverkusener Marketingdirektor hat sich auf dermaßen leisen Sohlen auf seinen Posten als Vorstandsvorsitzender geschlichen, dass er sich beim Pförtner wohl noch ausweisen muss. Ihm kommt aber auch ohne große Öffentlichkeit die essenzielle Aufgabe zu, dem Klub wieder eine Perspektive zu weisen.

Grammozis formulierte als augenzwinkernde Replik auf seine vermeintliche Entlassung unbewusst vielleicht das passende Credo: „Ich bin froh, dass sie mich nicht für tot erklärt haben.“ Und so sollten sie sich am Berger Feld in Erinnerung rufen, dass den ultimativ Abgeschriebenen stets die größten Überraschungen zuzutrauen sind.

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