Traditionsverein am Abgrund Schalke schafft sich ab

Meinung | Düsseldorf · Der FC Schalke versinkt mal wieder im Chaos. Damit kennt man sich aus bei Königsblau. Diesmal geht es aber um mehr als entlassene Manager und Problemprofis. Dem Klub droht der Sturz ins Bodenlose.

 Das Logo des FC Schalke 04 an der „Tausend-Freunde-Mauer“ vor der Schalker Arena.

Das Logo des FC Schalke 04 an der „Tausend-Freunde-Mauer“ vor der Schalker Arena.

Foto: dpa/Fabian Strauch

Beginnen wir mit einer unbequemen Wahrheit: es kann sehr wohl immer noch schlimmer werden. Nachdem sich der FC Schalke 24 sieglose Spiele lang um die Rote Laterne beworben hat, führt die aktuelle Tabelle die Gelsenkirchener nun endlich als 18. Sieger der bisherigen Bundesliga-Saison, Ground Zero ist vorerst erreicht und droht dabei nur eine Zwischenstation zu werden.

Beginnend mit einem Fußballspiel am Samstag gegen Wolfsburg, das einem gekickten Insolvenzantrag gleichkam, trampelte Schalke in den vergangenen Tagen blindlings durch einen regelrechten Parcours aus Kalamitäten und Hochnotpeinlichkeiten. Vorwiegend ging es darum, welcher Spieler sich wann und wie respektlos gegenüber dem Trainer verhalten und wann mit wem das Stadion verlassen hatte. Überwachungskameras mussten als Kronzeugen herhalten, dokumentierten aber vor allem die eigene Orientierungslosigkeit. Bei allen Ungereimtheiten bleibt am Ende sieben als Antwort auf die Frage festzuhalten, wie viele Spiele Manuel Baum denn nun brauchen würde, um die Kabine zu verlieren.

Dass es ihm anders als seinen zahlreichen Vorgängern ergehen würde, konnte niemand ernsthaft angenommen haben. Wie beim elektronischen Bullenreiten geben sich seit Jahren Mutige und Übermütige den Sattelknauf in die Hand, um dem bockigen Urviech Schalke aufzusitzen. Allein die Bereitschaft, sich das vor aller Augen anzutun, scheint dabei als Schlüsselqualifikation für Entscheiderposten zu genügen. Dass keiner der Trainer und Manager in diesem Jahrtausend die wilden Zuckungen und unvorhersehbaren Wendungen des Klubs schadlos überstanden hat, scheint programmiert: Endstation Hosenboden.

Spieler, die sich in den vergangenen Jahren als so etwas wie der feste Kern einer sich zusehends verflüchtigenden Mannschaft herausgebildet haben, sind dabei Motor permanenter Unruhe. Nabil Bentaleb musste zum sage und schreibe fünften Mal suspendiert werden, bis Schalke-Chef Jochen Schneider nun doch feststellte, dass es zwischen ihm und Schalke „einfach nicht passt“. Amine Harit hat in dieser Saison bereits mehr Gesinnungsaufsätze (1) veröffentlicht als Tore geschossen (0). Sollte sich der Eindruck verfestigen, dass er nur in jedem zweiten Jahr aktiv am Spielbetrieb teilnimmt, wäre vielleicht ein entsprechendes Vertragsmodell die Lösung. Bis auf Weiteres darf auch er nun allein trainieren.

Doch selbst wenn man glaubt, dass man eigentlich gar nichts falsch machen kann, gelingt Königsblau das Gegenteil. Dass mit Vedad Ibisevic ein, wenn auch im gesetzten Alter, doch noch immer veritabler Torjäger anheuerte - und das praktisch „für umme“, kam wie bestellt. Denkste! Keine drei Monate dauerte die Zusammenarbeit und Schalke darf sich glücklich schätzen, dass sie auf Erfolgsbasis angelegt war - das kommt das klamme Schlusslicht wenigstens günstig. Wer Schneider allerdings glaubt, dass Ibisevics Vertragsauflösung in keinerlei Zusammenhang damit steht, dass er Co-Trainer Naldo tags zuvor auf dem Trainingsplatz um ein Haar aufgegessen hätte, hält dann wohl auch den Zeitpunkt der Trennung für geschickt gewählt, um solche Mutmaßungen zu verhindern.

Diese Episode vertieft gleichsam die Zweifel an der Personalie des Brasilianers. Dass Schneider schon bei seiner Einführung feststellte, Naldo stehe „wie kaum ein Zweiter“ für Schalke 04 ließ nicht nur Traditionalisten zusammenzucken, ganz zu schweigen von der noch immer unbeantworteten Frage, ob er denn ein guter Fußballtrainer ist. Doch Schneider weiß, dass die Folklore auf Schalke bedient werden will. Das wird ihm Clemens Tönnies in die Übergabe geschrieben haben. Dass Schneider ein eher erdverbundener Charakter ist und oft als emotionaler Flatliner daherkommt, mag dennoch prinzipiell kein schlechtes Setup sein, um in diesem Umfeld zu bestehen. Das Machtvakuum, das Tönnies hinterlassen hat, konnte er mit seiner Aura bislang jedoch nicht füllen. Mit jeder Niederlage und jeder personellen Fehleinordnung wirkt er ein Stückchen mehr wie ein Chef auf Abruf. Auch die Personalie Michael Reschke, von dem vermutlich viele erst durch seine Entlassung erfahren haben, dass er zuletzt für Schalke beruflich tätig war, dürfte Schneiders Posten mittelfristig nicht stärken. Es ist allerdings auch niemand in Sicht, der ihm seinen Posten streitig machen wollte, denn die Perspektive ist verheerend.

Nach 24 Spielen ohne Bundesliga-Sieg könnte beinahe jeder auf Schalke eine gute Geschichte darüber erzählen, warum er eigentlich gar nicht dort sein sollte und zu viel Höherem berufen ist. Auf und neben dem Feld unterlegen konnte das in der jüngeren Vergangenheit allerdings praktisch niemand. Dass Schneider jetzt öffentlich den Abstiegskampf ausgerufen hat, ist Ausweis genau dieser notorischen Verblendung. Tatsächlich müsste es nicht Abstiegs-, sondern Überlebenskampf heißen - und der läuft seit Anfang dieses merkwürdigen Jahres.

So ehrlich wie Mark Uth nach der Niederlage gegen Wolfsburg gestand, dass er am liebsten nur noch weinen möchte, so vollkommen chancenlos wirkt diese Mannschaft in nahezu jedem Spiel. Das Team hat seit Monaten keine Argumente mehr dafür geliefert, für einen Bundesliga-Sieg auch nur in Frage zu kommen. Wenn sich nicht ziemlich unerwartbar Grundsätzliches ändert, geht es für Schalke auf direktem Weg in die Zweitklassigkeit. Doch auch dort ist der heimlich ersehnte Aufprall nicht in Sicht. Mit rund 200 Millionen Euro Schulden blüht bei aller Corona-Nachsicht wohl die Insolvenz. Kein heilsamer Schock, kein reinigendes Gewitter, kein Neustart, kein jetzt erst recht - ein Abstieg wäre wohl der sichere Ruin dieses irgendwann mal stolzen Klubs.

Auf dem Weg dorthin gerät eine eigentlich nicht zu unterbietende Rekordmarke aus der Fußballsteinzeit tatsächlich ins wanken. Anfang des kommenden Jahres könnte Schalke den Immer-und-ewig-Negativrekord von Tasmania Berlin einstellen. Eine Schmonzette aus grauer Vorzeit, heute eigentlich undenkbar. Und nun macht sich daran nicht etwa ein Außenseiter wie einst Paderborn, Greuther Fürth oder Darmstadt, sondern eben Schalke. Als wäre das alles nicht längst viel zu viel, melden sich nun auch Verantwortliche von Tasmania zu Wort und bitten ausdrücklich darum, die Finger von ihrem Rekord zu lassen, der als Synonym für Misserfolg doch eine irgendwie wertvolle Marke ist. Das schmerzt noch mehr als alle Häme.

Schneider ist einst mit dem Mantra des großen Rudi Assauer angetreten: „Entweder schaffe ich Schalke oder Schalke schafft mich“. Inzwischen scheint nicht mehr ausgeschlossen, dass es auf Tor drei hinausläuft: Schalke schafft sich ab.

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