Marcelo Bielsa Das verrückte Trainergenie von Leeds

Leeds · Nach 16 Jahren der Misere hat der Argentinier Marcelo Bielsa den Traditionsverein Leeds United zurück in die Premier League geführt. Dort begeistert der Aufsteiger die englischen Fans mit aufregendem Angriffsfußball. Der einst verhassteste Klub Englands ist nun Everybody’s Darling.

 Hat den Anhängern von Leeds United die Freude an ihrem Verein zurückgebracht: Fußball-Philosoph Marcelo Bielsa.

Hat den Anhängern von Leeds United die Freude an ihrem Verein zurückgebracht: Fußball-Philosoph Marcelo Bielsa.

Foto: Action Images/Paul Childs

Es hatte etwas Ikonisches wie Marcelo Bielsa nach Schlusspfiff da in Denker-Pose, fast regungslos am Spielfeldrand kauerte und gedankenversunken auf den Rasen blickte. Seine Mannschaft, der Aufsteiger Leeds United hatte an diesem 3. Oktober das mächtige Manchester City von Pep Guardiola in einem berauschenden Spiel an den Rand einer Niederlage gebracht. Leeds hatte mehr Ballbesitz, spielte mehr Pässe und weniger Fehlpässe, gewann mehr Zweikämpfe. 1:1 hieß es am Ende. Schon gegen Meister Liverpool hatte sich der LUFC am ersten Spieltag erst in letzter Minute geschlagen geben müssen.

Nach 16 Jahren voller Chaos, Missmanagement und sportlicher Tristesse – noch 2001 stand Leeds im Halbfinale der Champions League – hat dieser argentinischer Fußball-Philosoph den darbenden Traditionsverein aus dem Norden aus seiner Agonie befreit und wieder in die Premier League geführt. Dort begeistert er aktuell ganz England mit einem Angriffsfußball, der untypisch für einen Aufsteiger ist, und einer Mannschaft, die weitgehend aus den gleichen Spielern besteht, die vor zwei Jahren nicht über Platz 13 in der zweiten Liga hinauskamen. Der einst verhassteste Fußballklub des Landes ist so plötzlich Everybody's Darling. Alle lieben Bielsa, alle lieben Leeds.

Noch 1990, beim letzten Aufstieg der „Whites“, titelte die die Boulevardzeitung „Mirror“: „Leeds Scum are back“ – „Der Leeds-Abschaum ist wieder da“. Tatsächlich hatte der Klub über Jahrzehnte den Ruf, seine Erfolge wie die Meisterschaft 1969 und 1974 mit überhartem und unfairem Fußball zu erringen. Die Anhänger galten als gewalttätig, viele Teams fürchteten sich vor der toxischen Atmosphäre an der Elland Road, wo die Spieler noch heute beim Einwurf den Atem der Zuschauer im Nacken spüren können.

„Marching on together" – frei übersetzt „gemeinsam immer weitermarschieren" – schallt es bei jedem Heimspiel aus zehntausenden Kehlen. Es ist der Refrain der Vereinshymne und der martialische Schlachtruf der Leeds-Fans. Marcelo Bielsa ist es seit seiner Ankunft im Sommer 2018 gelungen, dass seine Profis genau dieses Motto auf ihr Spiel übertragen: Den Gegner überfallartig attackieren, ihn in Richtung eigenes Tor drängen und zu Fehlern zwingen. Dabei werden sie scheinbar nie müde. In Ballbesitz zeigen sie flinkes, vorwärtsgerichtetes Kombinationsspiel. An guten Tagen wirkt das wie eine anmutige Choreographie, bei der jeder genau weiß, was der Mitspieler als nächstes tut. "Bielsa-Ball", sagen sie in England zu dem Spiel, das an den niederländischen "Totaalvoetbal" der 1970er Jahre erinnert.

Diese Art zu spielen, ist extrem kräftezehrend. Neuzugänge tun sich regelmäßig schwer, ins Team zu kommen. Davon kann der Ex-Leipziger Jean-Kevin Augustin ein Lied singen. Die Spieler berichten, wie fordernd Bielsa sein kann. Tägliche doppelte Trainingseinheiten, Ernährungspläne, ständige Körperfett-Kontrollen und Überprüfungen der Fitnesswerte. Es wird immer mit Ball trainiert, taktische Formationen und Spielzüge minutiös geübt. Berüchtigt ist auch das Trainingsspiel mit dem Namen „Murderball“. Es wird klassisch elf gegen elf gespielt, aber es gibt keine Fouls, kein Abseits, keine Pause. Die Spieler müssen manchmal für 20 Minuten am Stück rennen, dürfen nicht stehen bleiben. Mitarbeiter stehen am Spielfeldrand und werfen für jeden Ball, der die Seitenauslinie überquert, einen zurück ins Spiel.

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Foto: dpa/Richard Sellers

In der Welt des Profifußballs hat Bielsa vor allem unter seinen Trainerkollegen große Bewunderer. Guardiola hatte 2007, bevor er mit dem FC Barcelona eine Ära prägte, Bielsa in seiner argentinischen Heimat besucht. 13 Stunden lang redeten sie über Fußball, Guardiola schrieb dabei mehrere Notizbücher voll. Seitdem nennt er Bielsa „den besten Trainer der Welt" und sagt Sätze wie: „Marcelo versteht viel mehr von Fußball als ich." Der ehemalige Spurs-Trainer Mauricio Pochettino und Atletico Madrids Trainer Diego Simeone haben unter ihm gespielt und nennen Bielsa noch heute als größten Einfluss.

Der Argentinier ist ein Fußball-Besessener. Kein launischer Lautsprecher wie Spurs-Trainer José Mourinho, kein kumpeliger Spielerumarmer wie Liverpool-Trainer Jürgen Klopp, sondern ein akribischer Analytiker und Perfektionist. Öffentlich tritt er nur mit Dolmetscher auf, redet bedächtig auf Spanisch und guckt mitunter stoisch zu Boden. Er wirkt dabei oft unnahbar, fast kauzig, trotzdem hängen die Journalisten an seinen Lippen wie an denen eines Gelehrten, füllt seine Aura den Raum aus.

Warum sie ihn in Argentinien „El Loco" – „den Verrückten" – nennen, veranschaulicht die Episode um das „Spygate" im Januar 2019. Vor dem Spiel gegen Ligarivalen Derby County hatte Bielsa einen Mitarbeiter mit einem Fernglas das Training des Gegners ausspionieren lassen. Es gab Kritik von allen Seiten. Als Bielsa eine Pressekonferenz einberief, rechneten viele mit seinem Rücktritt – er hatte schon häufig das Handtuch geworfen, wenn er das Gefühl hatte, man habe Vorbehalte gegen ihn. Doch die Pressekonferenz wurde zur denkwürdigsten Präsentation, die der englische Fußball je gesehen hatte. 66 Minuten lang offenbarte Bielsa, wie er sich auf Spiele vorbereitet. Hunderte Folien mit Statistiken, Formationen und Videoschnipseln rauschten in einer unglaublichen Detailfülle an den Versammelten vorbei. Für das Spiel gegen Stoke City hatte Bielsa mit seinem Analyse-Team 26 Spiele in voller Länge aufgearbeitet, die der gegnerische Trainer in der Vorsaison mit Drittligist Luton Town bestritten hatte. Es war Bielsas Art zu sagen: Ich habe einen Fehler gemacht. Aber nur, weil ich nicht die kleinste Eventualität zulassen wollte.

In seinem Büro in Leeds haben sie Bielsa ein Bett eingerichtet, falls er mal wieder die Zeit vergisst. Schon beim ersten informellen Treffen mit Sportdirektor Victor Orta hatte der 65-Jährige aus Rosario eine Fehleranalyse mitgebracht, die auf sämtlichen Spielen seiner Vorgänger beruhte. Wie es Orta schließlich gelang, diesen Weltrainer davon zu überzeugen, einen gebeutelten Zweitligisten zu übernehmen, in dessen Umfeld maximaler Erwartungsdruck herrscht, bleibt sein Geheimnis. Aber Bielsa wählte schon immer den steinigen Weg, suchte die Herausforderung. Ihm lag nie daran, Titel zu sammeln. So liest sich seine Vita eher bescheiden: argentinische und chilenische Nationalmannschaft, Atletic Bilbao, Olympique Marseille, Lazio Rom, OSC Lille. Seine großen Erfolge – die argentinischen Meisterschaften 1991 und 1992 mit den Newell’s Old Boys aus seiner Heimatstadt Rosario, wo sie das Stadion nach ihm benannt haben – liegen lange zurück. Vor allem in Europa hielt er es nie lange bei einem Verein aus.

Doch nun scheint er im rauen, aber herzlichen Norden Englands sowas wie seine zweite Heimat gefunden zu haben. Für sein demütiges und bescheidenes Auftreten abseits des Fußballplatzes lieben sie ihn hier. In der noch immer von der Arbeiterschaft geprägten Stadt im Herzen Yorkshires geben sie nicht viel auf Schaumschläger. Und Bielsa lebt diesen Idealtypus. Statt eines Lofts in der Innenstadt hat er ein kleines Häuschen im Vorort Wetherby bezogen. Jeden Tag läuft er die 45 Minuten Fußweg zum Trainingszentrum Thorpe Arch und wieder zurück – auch bei strömendem Regen. Angebote vorbeifahrende Fans oder Journalisten, ihn mitzunehmen, schlägt er stets höflich aus. Ein junger, ebenfalls in Wetherby wohnender Fan von Manchester United – einst der erbittertste Rivale von Leeds – erzählte, wie er einmal mit seinen Kumpels auf dem Bolzplatz kickte, als plötzlich Bielsa vorbeischlenderte und fragte, ob er mitspielen könne. Entzückt erzählen sich die Anhänger die Anektdote, wie Bielsa im Herbst 2019 zur feierlichen 100-Jahre-Gala des Vereins in seinem übergroßen Leeds-Trainingsanzug erschienen war, während sich alle anderen herausgeputzt hatten.

„Die Wichtigste am Fußball ist die Liebe, die die Menschen für ihren Klub haben“, sagt er nach dem Aufstieg. Als sich Fans vor seiner Türe versammelten, um ihn zu feiern, kam er verlegen lächelnd nach draußen und bedankte sich bei jedem einzeln mit den Worten: „Ich verdiene das nicht.“ Doch sie haben ihn wie einen Heiligen im Zentrum als überlebensgroßes Wandbildnis verewigt, in Gestalt der über Rio de Janeiro wachenden Christusstatue mit dem Vereinswappen auf der Brust. Es ist ein Sinnbild dafür, was Marcelo Bielsa den Menschen dieser Stadt bedeutet. Es scheint, als hätten sie all die Jahre nur auf ihn gewartet: Den genialen Verrückten, der ihnen die Freude an ihrem Fußballverein zurückbringen würde. Sie singen nun stolz: „Are you watching Manchester? – „Manchester, schaust du zu?“

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