Historisches 1:1 gegen Portugal Islands "Wikinger" bleiben sich auf der großen Bühne treu

Saint-Etienne/Düsseldorf · Es gibt viele Klischees über Island. Anstatt sie zu widerlegen, scheint der Underdog der EM daraus seine Kraft zu ziehen. Mit ihrer "Wikinger"-Mentalität und solidem Fußball haben die Isländer Cristiano Ronaldos Portugal zur Verzweiflung gebracht.

EM 2016: Island-Fans sorgen für Gänsehaut-Stimmung
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Island-Fans sorgen für Gänsehaut-Stimmung

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Foto: dpa, mr

T-Shirt-Sprüche taugen selten dazu, eine Nation zu charakterisieren. Aber selbst das bekommen die Isländer hin. "Wenn dir das Wetter nicht gefällt, warte fünf Minuten" — in den Souvenirshops der Hauptstadt Reykjavik springt einem dieses Zitat ins Auge. Es hat auf der Vulkaninsel im Nordatlantik keinen Sinn, mit dem Wetter zu hadern, da es sich sowieso andauernd ändert. Man macht das Beste draus, auch Touristen lernen das schnell.

Ähnlich schien Islands Nationalmannschaft am Dienstagabend in Saint-Etienne bei der historischen Premiere des von der Einwohnerzahl her kleinsten Landes zu verfahren, das sich je für eine EM oder WM qualifiziert hat. "Wenn dir das Ergebnis nicht gefällt, warte 19 Minuten" — so viel Spielzeit verging zwischen Portugals verdientem 1:0 durch Nani und dem Ausgleich durch Birkir Bjarnason, der so überraschend kam wie ein Vulkanausbruch in der Lüneburger Heide.

Nach Gylfi Sigurdssons Großchance in der 3. Minute hatte Island gegen Portugal — wie immer personifiziert durch Cristiano Ronaldo, der aus zehn Schüssen dennoch kein Tor machte — fast ausschließlich verteidigt. Keeper Hannes Halldorsson zeigte einige seiner insgesamt zehn Paraden, weshalb ZDF-Kommentator Bela Rethy problemlos eine der fünf meisterwähnten Randnotizen über den Underdog unterbringen konnte: Halldorsson ist Regisseur und er hätte einst beinahe als drittklassiges Dickerchen seine Torwarthandschuhe an den Nagel gehängt. "Damals hätte er wohl mehr Chancen gehabt, Islands erfolgreichster Strandtuchverkäufer zu werden als Nationaltorwart", schrieb das Magazin "11 Freunde" einmal.

Was die Sympathien angeht, die ihnen zufliegen, hatten die Isländer schon vor dem Anpfiff bei der Nationalhymne untermauert, dass sie den Iren, Stimmungs-Könige von 2012, ernsthafte Konkurrenz machen können. Ihr Team hat mit dem Unentschieden gegen Mit-Favorit Portugal nun aber schon mehr Punkte gesammelt als die demütigen "Fields of Athenry"-Sänger vor vier Jahren.

Die isländischen Fans sind nicht minder stimmgewaltig. Etwa 9000 von ihnen waren im Stadion, das Laugardalsvöllur in Reykjavik mit seinen zwei Tribünen fasst nur 15.000. Kein Wunder, dass Nationaltrainer Heimir Hallgrimsson meinte: "Es war fantastisch, hier zu spielen. Es war wie zu Hause. Unsere Fans waren unglaublich, das hat den Spielern sehr geholfen."

Der umstrittene Verteidiger Pepe wurde konsequent ausgepfiffen und hätte wegen einer Tätlichkeit gegen Jon Dadi Bödvarsson in der 68. Minute durchaus vom Platz gestellt werden können. Cristiano Ronaldo erntete für jeden Schuss, der das Tor verfehlte, hämischen Applaus. Island ist mit den Mechanismen des europäischen Festland-Fußballs also bestens vertraut.

Nun wäre es leicht, das Team des Trainer-Duos Lars Lagerbäck (ein alter schwedischer Haudegen) und Hallgrimsson (früher Zahnarzt auf der Insel Heimaey) reflexartig mit dem SV Darmstadt zu vergleichen. Ein Punktgewinn bei einem Torschussverhältnis von 4:27 erfordert schon ein paar Gegenbeweise, dass die "Wikinger" keine "Lilien" sind. Immerhin brachten sie trotz britischer Kick-and-Rush-Elemente 73 Prozent ihrer Zuspiele zum Mann. Die gut geschulte Technik, erlernt in den vielzitierten sieben Fußballhallen des Landes, war erkennbar.

Dass Bjarnason der Ausgleich gelang, passt bestens in die Gesamtbetrachtung — der langhaarige "Wikinger" auf der linken Außenbahn, der einer der zwei Spieler ist, die nicht im Großraum Reykjavik oder im Ausland, sondern im noch abgelegeneren Norden der Insel geboren sind. Der andere ist Kapitän Aron Gunnarsson, dessen Einwürfe eigentlich zu den insgesamt zwei Eckbällen der Isländer addiert werden müssten.

Islands erstes EM-Tor ließ den Kommentator kreischen wie ein kleines Mädchen:

Der EM-Neuling entzieht sich ein wenig den hypermodernen Analysetechniken dieser Zeit. Wohin führen "Packing"-Statistiken, wenn eine Mannschaft im 4-4-2 mit zwei flachen Viererketten und zwei Stürmern aufläuft, wie es Deutschland bei der WM 2006 mit Michael Ballack und Torsten Frings im Zentrum gespielt hat? Überstrahlt bedingungsloses Sich-Reinhauen über 95 Minuten nicht das Verhalten in den Halbräumen?

Auf dem Papier hätte Portugal den Sieg zweifellos verdient gehabt, qualitativ hochwertig waren jedoch nicht viele der 27 Torschüsse. Nach dem "Expected Goals"-Modell gaben beide Teams von den vier gefährlichsten Versuchen je zwei ab. 2,19:0,89 hätte das Spiel laut "xG" ausgehen müssen. Wie die Isländer den Erwartungswert der Portugiesen halbierten, ist statistisch schwer zu analysieren.

"Uns zeichnet großes Selbstbewusstsein aus. Es ist toll, zu sehen, dass wir gut genug sind für dieses Niveau", sagte Gylfi Sigurdsson, als habe er selbst noch daran gezweifelt. Am Samstag folgt in Marseille das Duell mit Ungarn, dem zweiten Überraschungsteam dieses ersten EM-Spieltags. "Ein Punkt ist sehr gut. Wir können das nächste Spiel etwas entspannter angehen", meinte Hallgrimsson. "Aber mit einem Sieg gegen Ungarn sind wir fast da." Er meinte das Achtelfinale. Wer das kategorisch ausschließt, glaubt wohl auch, dass sich in Island nie die Sonne zeigt. Auch das wurde am Dienstag widerlegt:

(jaso)
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