TV-Skandal im EM-Halbfinale Tränen lügen doch

Warschau · Die internationale TV-Regie hat die Wirklichkeit erneut verfälscht. Sie zeigte im deutschen Halbfinale nach einem italienischen Treffer eine weinende Frau. Das Bild wurde allerdings schon vor dem Spiel aufgenommen, wie die 46-Jährige selbst im Gespräch mit unserer Redaktion versichert.

 Andrea aus Kaarst weinte vor dem Halbfinale zwischen Deutschland und Italien — nicht beim Stand von 0:2.

Andrea aus Kaarst weinte vor dem Halbfinale zwischen Deutschland und Italien — nicht beim Stand von 0:2.

Foto: Youtube

Die deutsche Mannschaft hat soeben im Halbfinale gegen Italien das Tor zum 0:2 hinnehmen müssen. Eine Frau vergießt Tränen, und das Bild aus Warschau wird in alle Welt ausgestrahlt. Ein Fernsehbild, das ideal und ausdrucksvoll zur Gefühlslage deutscher Fußballfans im Warschauer Stadion und der Menschen im Heimatland passt als ergreifendes Dokument der Enttäuschung. Die Geschichte hat nur einen Haken: In der Art, wie das Bild den Fernsehzuschauern in aller Welt präsentiert wurde, ist es eine Fälschung, eine dreiste Manipulation. Es wurde von der Weltbildregie, die der Europäischen Fußball-Union (Uefa) unterstellt ist, als live an die Sender gegeben.

Mit dem neuerlichen Fall hat sich die Diskussion um die authentische Ausstrahlung von Fernsehbildern weiter verstärkt. Während des deutschen Gruppenspiels am 13. Juni gegen die Niederlande (2:1) war eine Szene eingespielt worden, die Bundestrainer Joachim Löw dabei zeigte, wie er einen netten Joke machte und einem ukrainischen Balljungen von hinten einen Ball aus dem Arm schlug. Auch diese Aufnahme war vor dem Anpfiff gemacht worden.

Andrea versichert: "Das Bild muss vor dem Spiel entstanden sein." Die Frau aus Kaarst saß in der ersten Reihe. "Da war diese Atmosphäre, dann kam die Nationalhymne, das war einfach überwältigend", erzählt sie und fügt hinzu: "Im Spiel habe ich nicht geweint, nein."

"Es war das erste Länderspiel, das ich live in einem Stadion gesehen habe", sagt sie. Was dem Bild von ihr folgte, das sie während des Spiels selbst nicht auf der großen Leinwand sah, das aber in alle Welt ging, waren "SMS ohne Ende", wie die 46-Jährige berichtet. "Schon im Stadion habe ich die erste Mitteilung bekommen, ich müsste doch jetzt nicht weinen, es sei doch noch alles drin gewesen." Bei ihr daheim riefen Bekannte an.

Plötzlich Medienstar

Eine Zuschauerin, nur wenige Sekunden auf dem Bildschirm zu sehen, wird auf kuriose Weise plötzlich zum Medienstar. "Es sieht so aus, als hätte ich im Stadion geheult, nachdem das 0:2 gefallen war", sagt sie. Dass ihr Bild so aber in die Medien kam, "damit habe ich nicht gerechnet".

Sie und ihr Mann Stefan hatten für das Spiel in der polnischen Hauptstadt Karten für die Plätze unmittelbar am Spielfeld bekommen, und damit waren sie natürlich im Blickfeld der Kameras. Sie trug eine Deutschland-Kluft und ihr Mann wieder seinen Fan-Anzug, mit dem er bereits zum Gruppenspiel gegen Dänemark nach Lemberg (Ukraine) und zum Viertelfinale gegen Griechenland nach Danzig geflogen war. Sein Begleiter damals war jeweils Andreas Preuß, Manager des deutschen Tischtennis-Rekordmeisters Borussia Düsseldorf.

Wenn sich die beiden, die seit vielen Jahren befreundet sind und sich die Reisen zu ihrem 50. Geburtstag selbst schenkten, in den Straßen mit ihrer bunten, ungewöhnlichen Kleidung in die Menge der Fußballanhänger mischten, wurden sie immer wieder wie zwei Prominente von anderen Fans und von Einheimischen gebeten, sich für Fotos zur Verfügung zu stellen.

Enttäuscht, aber nicht traurig

War Andrea nun traurig über die Niederlage der DFB-Auswahl gegen Italien? "Traurig ist vielleicht der falsche Ausdruck", sagt sie, "klar war ich enttäuscht." Viele Spiele hat sie noch nicht live erlebt. "Ich war schon mal bei Fortuna Düsseldorf im Stadion", erzählt sie. Als Fan würde sie sich allerdings nicht bezeichnen, "das wäre zu viel gesagt. Aber wenn Welt- oder Europameisterschaften sind, gucke ich mir alle Spiele der deutschen Mannschaft an, auch Spiele anderer Länder. Die Bundesliga schaue ich mir eher nicht an".

Und wie ist ihr persönliches Fazit der kuriosen Geschichte von ihrem Bild, das um die Welt ging? "Es sind gemischte Gefühle, und doch eher positiv", sagt sie. "Es war ein ganz tolles Erlebnis. Ich will das gar nicht schlechtmachen. Ich bin ein positiver Mensch und hoffe, dass alles bei der Wahrheit bleibt."

"Dieser Vorfall ist in keinster Weise zu akzeptieren", erklärte Dieter Gruschwitz, Sportchef des ZDF. "Denn hier wurde dem Zuschauer suggeriert, dass eine Szene — die Frau mit der Träne — in einem direktem Zusammenhang zur vorausgegangenen Situation steht, dem Tor der Italiener. Dies ist eindeutig eine Manipulation." ARD und ZDF sehen, so Gruschwitz, ihre Reputation bei den deutschen Zuschauern beschädigt.

Jörg Schönenborn, Teamchef der ARD bei der EM, betonte: "Ich bin froh, dass die Uefa das als Fehler sieht. Das beruhigt mich, weil wir sonst ein unterschiedliches Grundverständnis hätten, und das wäre für künftige Turniere nicht gut." ZDF und ARD hatten am Freitag bei der Uefa protestiert. "Unser Ziel ist es, im Hinblick auf weitere Turniere das Ganze sehr gründlich zu besprechen", sagte Schönenborn.

(RP/seeg)
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