Löws Denker und Lenker Kroos spielt in einer ganz anderen Welt

Evian-les-Bains · Bei "Deutschland sucht den Supercoolen" würde Toni Kroos aus dem Stand einen Spitzenplatz belegen. Den Mittelfeldspieler bringt so gar nichts aus der Ruhe. Auftritte vor zigtausend Zuschauern spielt er herunter wie eine Übung auf dem Trainingsplatz, Länderspiele sind der Normalfall, das Champions-League-Finale schraubt den Blutdruck nicht in ungesunde Höhen, und das EM-Viertelfinale gegen Italien morgen in Bordeaux bringt ihn auf keinen Fall um die gesunde Nachtruhe. Immerhin stellt er fest: "Ich glaube, dass es der für uns bis jetzt größte Prüfstein wird."

 Löws Stratege: Toni Kroos

Löws Stratege: Toni Kroos

Foto: afp

Leicht amüsiert nimmt er zur Kenntnis, wie Fußball-Deutschland über das Italien-Trauma diskutiert. Über die Unschlagbarkeit dieses Gegners bei großen Turnieren. Über die Halbfinal-Niederlage vor vier Jahren, als Kroos selbst von Bundestrainer Joachim Löw als Sonderbewacher für Andrea Pirlo verschwendet wurde. Über Gigi Buffons furchterregende Lautstärke beim Singen der Nationalhymne. Über die taktische Qualität der Italiener. Über ihre Abwehr. Über ihren Sturm. Über ihren Trainer. Und er fragt: "Warum sollte ich ein Italien-Trauma haben? Ich habe doch erst einmal bei einem Turnier gegen Italien gespielt."

Natürlich reicht sein Gedächtnis, sich daran zu erinnern. Aber diese Niederlage scheint allenfalls von statistischer Bedeutung zu sein. Der Fußballer Kroos hat sich in den zurückliegenden vier Jahren seit dem 1:2 von Warschau auf eine ganz andere Ebene entwickelt. Manche sagen: Er spielt inzwischen in einer ganz anderen Welt. Der 22-Jährige, der in München schon das Spiel zu dirigieren begann, war bei der EM 2012 ein sogenannter Ergänzungsspieler.

Aber er wurde immer mehr zu einer prägenden Figur. Spätestens bei der WM 2014 hatte das auch die gesamte Öffentlichkeit begriffen. Und der 26-jährige Kroos ist der Mittelpunkt des deutschen Spiels bei dieser EM in Frankreich. Er findet diese Entwicklung "ganz normal", er lässt sie jedoch lieber von anderen beschreiben. Vom Kollegen Jerome Boateng zum Beispiel, der es in Fragen der Unaufgeregtheit vielleicht noch am ehesten mit Kroos aufnehmen könnte. Er erklärt: "Tonis Weg spricht für sich. Er hat sein Spiel auf seine Mannschaften übertragen, im Verein bei Real Madrid und in der Nationalelf. Er bestimmt das Tempo, und er spielt hervorragende Pässe."

Kroos ist längst der Stratege, den sein früher Förderer Jupp Heynckes immer in ihm gesehen hatte. Er übernimmt die Verantwortung für das Spiel, und das muss er auch, weil er im defensiven Mittelfeld im Maschinenraum der deutschen Mannschaft sitzt. Bei den meisten Spielzügen und Angriffen hat er die Füße im Spiel, er bringt es bis jetzt auf die ungeheuerliche EM-Quote von 92,3 Prozent gelungenen Pässen - und er spielt den Ball ja nun wirklich nicht nur über fünf Meter quer. Deshalb wird er von den Kollegen gesucht, er kann mit seiner Ballsicherheit beruhigen, und Fehler kommen höchst selten vor. Das gibt dem deutschen Spiel den Rhythmus.

Bislang dominiert er gemeinsam mit Sami Khedira aus der Mitte die Aktionen der DFB-Auswahl. Und er ist selbstverständlich auch dafür zuständig, mit seinem Nebenmann die gegnerischen Angriffsversuche im Entstehen zu erkennen und möglichst frühzeitig zu stoppen. Es ist eine anspruchsvolle Aufgabe. Kroos und Khedira haben sie bislang mit stetig steigender Form-Tendenz bewältigt. Bei Kroos scheint es so, als habe er noch lange nicht die Grenzen seiner Fähigkeiten erreichen müssen, Khedira hat sich eher wieder hereingekämpft in seine Position.

Er erfüllt sie aber mit dem gleichen taktischen Verständnis. "Sami Khedira", sagt Bundestrainer Joachim Löw, "ist klug. Er erledigt seine Aufgabe." Das heißt: Er macht seinen Job auch dann richtig, wenn man das nicht so gut sieht, weil gerade wieder alle Augen auf den Ball gerichtet sind, während der Nebenmann von Kroos einen möglichen Passweg des Gegners durch einen Spurt außerhalb des Sichtfeldes schließt. Es sind diese unauffälligen Arbeiten, die Trainern immer besonders gut gefallen. Sie sprechen von der Drecksarbeit, und sie tun es mit Respekt.

Dennoch reden Teile der sogenannten sportlichen Leitung in jüngerer Vergangenheit sehr gern über die Verbesserungen von Bastian Schweinsteiger im Training. Auch Manager Oliver Bierhoff tut es. "Körperlich ist er so weit, dass er in der Startelf stehen kann", sagt Bierhoff, "Jogi Löw befasst sich mit vielen Varianten."

Eine könnte aus einem zentralen Mittelfeld mit Schweinsteiger und Kroos bestehen, zwei ausgewiesenen Strategen. Schweinsteiger kommt für dieses Duo in Frage, weil er defensiver denkt als Kroos und damit eine Art defensiven Libero geben könnte. So dominant wie Khedira an guten Tagen ist er nicht. Und seine Kurzauftritte im Turnier nähren zumindest Zweifel daran, ob er das nötige Tempo im Spiel mitgehen kann. Löw wird diese Frage beantworten können.

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