Hoffnungen auf Triumph sind groß Deutschland will den vierten Titel

Düsseldorf · Es ist der 30. Juni 1996. Ein sonnigschwüler Tag in London geht zu Ende. Und vor der Fankurve im Wembleystadion steht ein kleiner Mann im Anzug, der die Welle auf den Rängen dirigiert. Berti Vogts ist dieser Mann. Er ist an diesem Tag auf dem Höhepunkt seines Ansehens als Nationaltrainer bei all den zigtausend Freizeit-Nationaltrainern des Landes angelangt.

EM-Test 2012, Deutschland - Israel: Einzelkritik
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Deutschland hat im Wembleystadion durch ein goldenes Tor von Oliver Bierhoff in der Verlängerung Tschechien mit 2:1 geschlagen und ist Europameister. Bis heute ist das der letzte Titel, den eine DFB-Auswahl gewonnen hat. Deswegen ist es Zeit für eine neue Zeile im Briefkopf des größten Sportverbandes der Welt. Und deswegen sagt Joachim Löw, der vierte Bundestrainer in Vogts' Nachfolge, vor dem EM-Turnier in Polen und der Ukraine (8. Juni bis 1. Juli): "Wir wollen den Titel."

Der Bundestrainer kann sich so ein Anspruchsdenken leisten. Keine Mannschaft ging souveräner durch die Qualifikation. Löws Team gewann alle Spiele auf dem Weg zum Finalturnier, manchmal ein wenig vom Glück begünstigt, aber in den entscheidenden Begegnungen mit 90 Minuten langen fußballerischen Lehrstücken. Eine große Generation von Spielern, die vielleicht beste, die je für Deutschland antrat, trug dazu bei. Philipp Lahm (28) und Bastian Schweinsteiger (27), die Anführer dieser Mannschaft, sind im besten Fußballer-Alter.

Hungrig auf Titel

Sie haben ihre Erfahrungen auf höchster Ebene gesammelt, viele ganz wichtige Spiele unter hohem Druck bestritten und ihre Länderspiel-Karriere noch nicht mit einem Titel gekrönt. Das macht sie hungrig und bereit für den großen Wurf. Sie sind Teil eines Teams, das über die beeindruckendste Auswahl an Offensivkräften auf dem Kontinent, wenn nicht auf dem gesamten Globus verfügt.

Löw kann in der Angriffsmitte zwischen dem spielerisch starken und offenkundig ewig jungen Miroslav Klose und der Münchner Tormaschine Mario Gomez wählen. Im offensiven Mittelfeld haben der an guten Tagen zur Weltklasse zählende Mesut Özil und Lukas Podolski ihre Plätze zunächst sicher. Schon Thomas Müller muss sich mit Toni Kroos und Mario Götze um seine Planstelle balgen. Marco Reus und André Schürrle machen Podolski Druck.

Und neben dem gesetzten Schweinsteiger können Kroos in der angriffslustigeren Va- riante und Sami Khedira als Sicherheitsdienst das defensive Mittelfeld bilden. Ein verschwenderisches Angebot.

Davon kann in der Abwehr keine Rede sein. Vor Manuel Neuer, dem wohl besten Torwart in Europa, haben zwei Mann einen festen Platz. Holger Badstuber wird links innen verteidigen, Lahm irgendwo außen — vielleicht links, vielleicht wie bei den Bayern zuletzt rechts. Um den zweiten Innenverteidiger-Platz bewerben sich Mats Hummels, Jérôme Boateng und Per Mertesacker. Wenn Lahm nach rechts geht, könnte Marcel Schmelzer links verteidigen. Um die Ideallösung wird noch gerungen.

Fußballerisch war Löws Team vor der EM manchmal sehr nah dran. Er beschäftigte sich gar nicht erst mit dem Gedanken, dass seine Defensive insgesamt nicht den allerhöchsten Ansprüchen gerecht werden könnte, und griff mit großer Lust und taktischem Geschick an.

Konkurrenz staunt

Die einstweilen früheren Lehrmeister Holland (3:0) und Brasilien (3:2) mussten staunend erleben, was für eine Qualität sich da entwickelt hat. Es wird allerdings bei den Konkurrenten niemanden geben, der dem deutschen Team in Anerkennung seiner Verdienste in den zurückliegenden Jahren den EM-Titel freiwillig überreicht. Schon die Gruppenspiele gegen außerordentlich starke Gegner (Holland, Portugal, Dänemark) werden das zeigen.

Die DFB-Auswahl hat trotzdem allen Grund, selbstbewusst ins Turnier zu gehen. Sie hat den Abstand zum Branchenführer Spanien deutlich verringert, wahrscheinlich ist sie dem amtierenden Welt- und Europameister inzwischen um eine Kleinigkeit voraus. Jetzt muss sie nur noch begreifen, dass es sich bei den Spaniern um durchaus irdische Lebewesen handelt, die man tatsächlich mit fußballerischen Mitteln bezwingen kann. Vereinsteams haben es vorgemacht. Chelsea warf den FC Barcelona, die halbe spanische Nationalmannschaft, aus der Champions League.

Und Bayern München setzte sich in diesem Wettbewerb gegen Real Madrid durch. Das macht Mut. Und es darf als sicher vorausgesetzt werden, dass Löw nicht daran denkt, den Steinzeit- Abwehrfußball von Chelsea zu kopieren. Das erhält den Glauben an das Gute und Schöne im Fußball. Auch darum geht es Löw. In erster Linie aber diesmal um den Titel.

(seeg)
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