Oranje unter Druck Meine Horrorvision: "Ohne Holland fahren wir zur EM"

Düsseldorf · Es ist alle zwei Jahre das gleiche Ritual. Anfang Juni, kurz vor einer Welt- oder Europameisterschaft, wird meine Wohnung orange: Wimpelketten, Flaggen, Frittensauce, selbst das Klopapier. Die Euphorie ist jedes Mal groß – wider besseres Wissen.

Island schockt Niederlande
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Es ist alle zwei Jahre das gleiche Ritual. Anfang Juni, kurz vor einer Welt- oder Europameisterschaft, wird meine Wohnung orange: Wimpelketten, Flaggen, Frittensauce, selbst das Klopapier. Die Euphorie ist jedes Mal groß — wider besseres Wissen.

Denn ich weiß, wie es sich anfühlt, wenn Arjen Robbens Schuss zum WM-Titel am Fuß von Spaniens Iker Casillas abprallt. Wenn "wir" in einem EM-Halbfinale fünf von sechs Elfmetern gegen Italien verschießen. Oder wenn die beste Mannschaft der Welt um Johan Cruijff an ihrer eigenen Arroganz scheitert. Für Niederländer gibt es eine Sicherheit im Leben, die besagt, dass Mannschaften in orangefarbenen Trikots (sofern sie nicht Energie Cottbus heißen) dazu vorbestimmt sind, kurz vor dem großen Ziel in Schönheit zu sterben.

Im Tragischen lag auch etwas Positives. Das gute Gefühl, als kleine Nation im Konzert der Großen immer weit vorne mitzuspielen. Drei Weltmeisterschafts-Endspiele, einige Halbfinals bei WM- oder EM-Turnieren - Oranje gilt als Fußball-Macht. Auch wenn jetzt das unvermeidliche "wenn Holland sich denn qualifiziert" kommt. Darauf reitet ihr Deutschen gerne herum. Weil wir in den letzten 28 Jahren einmal nicht bei einem großen Turnier dabei waren. 2002 war das, als Louis van Gaal, damals noch großkotziger als heute, mit seinem Star-Ensemble an Irland gescheitert ist. Irland!

Inzwischen befürchte ich, dass ich Lieder wie "Ohne Holland fahren wir zur WM" demnächst häufiger über mich ergehen lassen muss. Denn der dritte Platz bei der WM in Brasilien, mit dem van Gaal seine persönliche Schmach von 2002 ausgebügelt hat, war nur ein Strohfeuer. Entfacht durch den letzten Weltstar in der Mannschaft: Arjen Robben.

Der Alltag sieht eher trist aus. Gegen Island geht es heute Abend für "Oranje" ums nackte Überleben. Bei einer Pleite gegen die Nordeuropäer, die keiner kennt, die aber trotzdem die Qualifikationsgruppe anführen, könnte die EM 2016 ohne uns stattfinden. Und das, obwohl nach der letzten Aufblähung des Turniers fast die Hälfte aller europäischen Nationen teilnehmen darf. Die Angst ist real: Fünf Punkte beträgt der Rückstand auf Platz eins, drei auf Rang zwei.

In den vergangenen Jahrzehnten machte der niederländische Fußball strukturelle Unzulänglichkeiten durch die wohl beste Nachwuchsförderung der Welt wett. Dann fingen andere Länder - darunter Deutschland - an, das System erfolgreich weiterzuentwickeln. In Holland herrschte Stillstand. Und so gelten inzwischen selbst die Belgier, über die wir jahrzehntelang maximal müde gelächelt haben, als die hipste Truppe im Weltfußball, während wir mit Spielern aus der international längst bedeutungslosen Ehrendivision Island schlagen müssen, um überhaupt noch zu den Hippen gehören zu dürfen.

Danny Blind ist nicht zu beneiden. Der neue Bondscoach war in seiner Karriere genau ein Jahr mäßig erfolgreicher Cheftrainer bei Ajax Amsterdam. Nun ist er in seinem ersten Pflichtspiel zum Siegen verdammt. Und ich habe Angst. Angst davor, dass ich das Land verlassen muss, um Hohn und Spott zu entgehen. Daher: Bitte Arjen, mach es noch einmal. Hau die Isländer weg. Danach die Türken. Und die Tschechen bitte auch.

Ich verspreche auch, dass ich meine Wohnung wieder schmücken werde. Wider besseres Wissen.

(RP)
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