Traumtore, Underdogs, Superstars Sechs Gründe, wieso die EM bislang so unterhaltsam ist

Analyse | Düsseldorf · Die Gruppenphase der EM ist vorbei und bislang sorgt das Turnier für viel Euphorie im Land. Das liegt nicht nur an der fantastischen Stimmung der Fans in den Städten, sondern auch an der fußballerischen Qualität. Sechs Gründe, wieso das Heim-Turnier aus sportlicher Sicht so viel Spaß macht.

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Die Top-Torjäger der EM 2024

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Foto: AFP/KIRILL KUDRYAVTSEV

Niederländische Fans hüpfen durch die Straßen von Hamburg, zwei schottische Anhänger helfen in Köln einem älteren Herrn mit Rollator über das Kopfsteinpflaster, ein deutscher Saxofonspieler aus Haan heizt mit seinem Instrument die Massen vor den DFB-Spielen ein. Die Europameisterschaft in Deutschland hat in der Gruppenphase schon für viele besondere Momente und virale Hits im Netz gesorgt.

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Foto: dpa/Christoph Soeder

So viel passiert bei diesem Turnier abseits der Stadien, dass man das eigentliche Geschehen auf dem Spielfeld fast schon ein wenig aus dem Blick verlieren könnte. Es ist die Entwicklung der modernen Zeit: ein Großereignis, bei dem es auch um den Sport geht. Dabei haben die bisherigen 36 von 51 EM-Spielen in der Gruppenphase auch aus sportlicher Sicht begeistern können. Wir lassen die Vorrunde Revue passieren und nennen sechs Gründe, wieso das Turnier in Deutschland so viel Spaß macht.

1.) DFB-Team spielt eine gute Gruppenphase

Die Vorrunde in den Gruppen B bis F hätte die spektakulärste in der EM-Historie sein können, mit einem schwachen DFB-Team und einem frühen Ausscheiden beim Heim-Turnier wäre die Euphorie im Land wohl trotzdem schnell verflogen. Zu groß waren Enttäuschung und Skepsis nach den schlimmen Auftritten bei vergangenen Großturnieren. Doch die Mannschaft von Bundestrainer Julian Nagelsmann hat es geschafft, die im März entstandene Begeisterung für das Nationalteam in das Heim-Turnier zu bringen – und sie dort durch drei gute Gruppenspiele weiter wachsen zu lassen.

Nach den Siegen über Schottland (5:1) und Ungarn (2:0) sowie dem Last-Minute-Drama gegen die Schweiz (1:1) ist Deutschland als Gruppensieger ins Achtelfinale eingezogen. Noch nie zuvor schoss eine deutsche Nationalmannschaft bei einer EM acht Tore in der Vorrunde. Das DFB-Team begeisterte durch schnelles und variables Kombinationsspiel, sehenswerte Treffer und erzeugte durch das späte Füllkrug-Ausgleichstor gegen die Schweiz auch auf der emotionalen Ebene einen Höhepunkt.

Angeführt wird die Nagelsmann-Elf dabei von Mittelfeld-Dirigent Toni Kroos, der mit 324 angekommenen Pässen in der Vorrunde einen neuen EM-Rekord aufgestellt hat. Auf den Plätzen dahinter rangieren übrigens der Spanier Xavi (317) und Kroos selber (323).

2.) Spektakuläre Distanzschusstreffer und kuriose Eigentore

Die Witze schrieben sich bereits nach der ersten Turnierwoche von selbst: „Chelsea möchte im Sommer EM-Toptorjäger ‚Eigentor‘ verpflichten.“ Direkt im Eröffnungsspiel erzielte Antonio Rüdiger gegen Schottland unglücklich das zwischenzeitliche 1:4 aus schottischer Sicht und eröffnete damit einen kuriosen Trend bei diesem Turnier. In den 36 Spielen der Vorrunde fielen bereits sieben Eigentore auf teils komische Art und Weise. Wie beim Missgeschick des türkischen Innenverteidigers Samet Akaydin gegen Portugal oder dem Treffer des Niederländers und BVB-Profi Donyell Malen gegen Österreich.

Damit steuert das Turnier auf einen neuen Rekord zu, der erst bei der EM 2021 aufgestellt worden ist. Damals wurden elf Eigentore gezählt – was zur kuriosen Statistik führt, dass 67 Prozent aller Eigentore der EM-Geschichte in den vergangenen beiden Turnieren gefallen sind. Und aktuell steht die K.o.-Phase ja sogar noch aus.

Traumtor: Xherdan Shaqiri von der Schweiz erzielt das 1:1 gegen Schottland.

Traumtor: Xherdan Shaqiri von der Schweiz erzielt das 1:1 gegen Schottland.

Foto: dpa/Marius Becker

Neben diesen kuriosen Treffern hat das Turnier in Deutschland aber auch schon für eine ganze Menge sehenswerter Treffer von außerhalb des Strafraums gesorgt: Türkeis Supertalent Arda Güler gegen Georgien, Altstar Xherdan Shaqiri für die Schweiz gegen Schottland oder der Rumäne Nicolae Stanciu beim Sieg über die Ukraine trafen so sehenswert. Der Anteil der Fernschusstore an den bisher 81 erzielten Treffern ist überdurchschnittlich hoch. Eine überraschende Erkenntnis, weil der Trend im Weltfußball in den vergangenen Jahren in diesem Bereich stets rückläufig war. Aufgrund der geringeren Erfolgschance sind Versuche von außerhalb des Strafraums weniger geworden – die EM hat uns nun wieder mit mehr spektakulären Fernschusstoren begeistert.

3.) Alte und neue Generation begeistern gleichermaßen

Es war ein Tor, das in die Geschichtsbücher eingegangen ist. Aus 26 Metern zimmerte der 19-jährige Arda Güler den Ball im ersten Gruppenspiel der Türken gegen Georgien zum zwischenzeitlichen 2:1 aus der Distanz in den Winkel. Ein sensationelles Tor, mit dem der Youngster auch einen neuen Rekord aufstellte. Der Türke löste Cristiano Ronaldo als jüngster Spieler ab, der bei seinem EM-Debüt ein Tor erzielte. Ihm selbst scheint der Rekord jedoch nichts zu bedeuten. „Mir geht es nicht um persönliche Erfolge“, sagte Güler bescheiden.

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Foto: AFP/KENZO TRIBOUILLARD

Und dann gibt es noch Lamine Yamal, das Ausnahmetalent des FC Barcelona. Mit seinen 16 Jahren und 338 Tagen stellte der Spanier im ersten Gruppenspiel gegen Kroatien einen neuen Rekord als jüngster Spieler bei einer EM überhaupt auf. Auf dem Platz merkt man von dem jungen Alter jedoch nichts. Genau wie sein 21-jähriger Teamkollege Nico Williams beflügelt Yamal das Offensivspiel der Furia Roja. Nur ein Tor fehlt dem Youngster noch zur Krönung.

Aber nicht nur die jungen Wilden machen bislang richtig Spaß. Auch die alte Generation macht bei dieser Europameisterschaft auf sich aufmerksam. Der Portugiese Pepe stellte am zweiten Spieltag der Gruppenphase mit seinen 41 Jahre und 117 Tagen einen neuen Rekord als ältester Spieler einer EM auf. Den Rekord wird er wahrscheinlich in der K.o.-Phase weiter erhöhen, gehört der Routinier doch zum Stammpersonal der Südeuropäer.

Auch Pepes Teamkollege und Superstar Cristiano Ronaldo macht bei dieser EM wieder auf sich aufmerksam. Nicht nur, dass der Portugiese mit jedem Spiel den Rekord für die meisten EM-Spiele in die Höhe schraubt (aktuell 28.). Mit seinem Assist zum 3:0 durch Bruno Fernandes im Spiel gegen die Türkei stellte der beste EM-Torschütze der Geschichte mit seiner achten Torvorbereitung bei einer EM auch den Vorlagenrekord des Tschechen Karel Poborský ein.

Und dann gibt es noch die wohl tragischste Figur des Turniers – Luka Modric. Als Anführer der goldenen Generation der Kroaten verpasste er zusammen mit seiner Mannschaft die K.o.-Runde durch den Ausgleich der Italiener in letzter Sekunde denkbar knapp. Sein Tor zur Führung, das ihn mit 38 Jahren zum ältesten EM-Torschützen machte, geht dennoch in die EM-Geschichte ein.

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Foto: AP/Bernadett Szabo

4.) Österreich, Rumänien und Georgien überraschen

Frankreich, Niederlande, Österreich und Polen – die Gruppe D wurde schon vor der EM als die härteste betitelt. Dass sich ausgerechnet Österreich gegen die starke Konkurrenz durchsetzen würde, vermuteten wohl nur die wenigsten. Durch den Gruppensieg landete die von Ralf Rangnick trainierte ÖFB-Elf auf der vermeintlich leichteren Seite des Turnierbaums. Für den Rest des Turniers scheint jetzt alles möglich.

Christoph Baumgartner (r.) feiert das 2:1 für Österreich mit Coach Ralf Rangnick

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Foto: AP/Petr Josek

Die Freude war nach Abpfiff riesig bei den Georgiern. Bei ihrer ersten Teilnahme an einer EM schaffte die Mannschaft von Trainer Willy Sagnol mit dem Einzug in die K.o.-Runde die wohl größte Überraschung des Turniers. Und das im entscheidenden Spiel gegen Portugal. Auch wenn der Europameister von 2016 als sicherer Gruppenerster eine bessere B-Elf ins Rennen schickte, war das 2:0 für Georgien im letzten Spiel nicht zu erwarten.

Vier Mannschaften mit jeweils vier Punkten – bis zur letzten Sekunde kämpften die Teams aus Gruppe F um den Einzug ins Achtelfinale. Mittendrin: Belgien. Der haushohe Favorit zeigte schwache Leistungen und landete am Ende sogar nur auf Rang zwei in der Tabelle. Umso größer war die Freude bei den Rumänen, die mit einem Unentschieden im letzten Spiel gegen die Slowakei den Gruppensieg einfuhren.

5.) Eriksen, Gjasula, Ilicic: Besondere Köpfe der Vorrunde

Ein abwechslungsreiches Großturnier lebt auch immer von seinen Persönlichkeiten, die durch besondere Leistungen oder Geschichten auffallen. Da wäre der Däne Christian Eriksen, der 2021 auf dem Platz einen Herzstillstand erlitt, nur knapp überlebte, und nun sein EM-Comeback direkt mit einem Treffer gegen Slowenien krönte. Oder Darmstadts Klaus Gjasula, der mit 34 Jahren bei der EM für Albanien debütierte, vier Minuten nach seiner Einwechslung gegen Kroatien per Eigentor die Führung des Gegners verschuldete, um dann in der 95. Minute zum Ausgleich zu treffen. Und nicht zu vergessen Xherdan Shaqiri, der in seiner Karriere stets dann zur Höchstform aufzulaufen scheint, wenn die ganze Welt (oder zumindest Europa) zuschaut. Mit seinem Traumtor gegen die Schotten ist der Schweizer nun der einzige Spieler, der in allen WM- und EM-Turnieren seit 2014 getroffen hat - also bei sechs großen Turnieren in Folge.

Albanien bejubelt das 2:2 von Klaus Gjasula gegen Kroatien.

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Foto: AP/Ebrahim Noroozi

Besonders, weil besonders emotional, war in der Gruppenphase zudem das Comeback des Slowenen Josip Ilicic, der aufgrund psychischer und physischer Probleme seit fast drei Jahren kein Pflichtspiel mehr für sein Land machen konnte, und nun bei der Partie gegen England eingewechselt wurde. Es sind diese Geschichten, die eine EM so einzigartig machen und für Spaß, Freude und Unterhaltung sorgen.

6.) Neue Schiedsrichter-Regeln und -Techniken funktionieren

Dass bei den Fans das Herz während des Spiels schneller schlägt, dürfte kaum verwundern, dass auch der Ball bei der EM jetzt einen Herzschlag hat, das ist etwas Neues. Mithilfe eines Chips im Spielgerät können die Schiedsrichter erkennen, ob ein Spieler den Ball berührt hat oder nicht. Die Analyse stellt die Uefa mit einer Grafik dar, die der eines EKG ähnelt. So geschehen beim Spiel zwischen Belgien und der Slowakei, als Lois Openda im Vorfeld eines Tores den Ball mit der Hand spielte. Der Treffer wurde zurückgenommen.

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Foto: dpa/Arne Dedert

Langes Warten auf die Entscheidung des VAR bei gleichzeitiger Unwissenheit, warum das Tor überhaupt überprüft wird – für diese Problematik hat die Uefa eine Lösung präsentiert. Transparent wird im Stadion, am TV und sogar über eine App darüber informiert, wieso der Video-Assistent einschreitet. Auch Abseitssituationen bei spielentscheidenden Szenen werden grafisch mithilfe von 3D-Modellen nachgereicht. Damit alle möglichst schnell Bescheid wissen, was los ist.

Um Rudelbildungen und lange Diskussionen mit dem Schiedsrichter zu vermeiden, dürfen nur noch die Kapitäne mit den Schiedsrichtern über strittige Situationen sprechen. Wer sich nicht daran hält, wird mit der Gelben Karte verwarnt. Mit dieser neuen Regel legt die Uefa wieder den Fokus aufs Spiel und unterbindet lange Diskussion auf dem Spielfeld schon im Vorfeld.