Nummer neun lebt Die Auferstehung des Mittelstürmers

Düsseldorf · Der klassische Mittelstürmer ist zurück. Die großen Klubs in Europa haben ihn, die halbe Bundesliga hat einen verpflichtet. In Deutschland fehlt allerdings der Nachwuchs auf dieser Position. Auch ein Grund fürs WM-Versagen.

 Alassane Plea ist bei Borussia Mönchengladbach bislang voll eingeschlagen.

Alassane Plea ist bei Borussia Mönchengladbach bislang voll eingeschlagen.

Foto: Dirk Päffgen Paeffgen (dirk)

Die Dinos sind ausgestorben – sogar in der Bundesliga (siehe unter H wie Hamburg). Es gibt aber eine Gattung, die alle paar Jahre totgesagt wird, die aber auch alle paar Jahre fröhliche Auferstehung feiert. Gerade ist es mal wieder so weit. Die Mittelstürmer sind zurück. Das zeigte bereits die Weltmeisterschaft in Russland, das zeigen auch die internationalen Wettbewerbe, und das zeigt sogar die Bundesliga, die so manchem Trend gern ein bisschen hinterherläuft (siehe hier unter U wie Umschaltspiel, das die nationale Liga erst unlängst für sich entdeckte).

„Grundsätzlich“, sagt Jupp Heynckes (73), der zwar inzwischen endgültig Rentner ist, aber noch immer mit sehr wachen Augen den Fußball begleitet, „kann man sagen, dass es eine Renaissance des Mittelstürmers gibt. Man muss ja nur auf die erfolgreichen Vereine in Europa schauen: Der FC Barcelona hat Suarez, Tottenham hat Kane, Manchester Lukaku, Turin Mandzukic, Real Madrid Benzema.“

Es ist natürlich kein Zufall, dass alle vier Halbfinalisten der Weltmeisterschaft auf Spielertypen setzten, die frühere Fußballlehrbücher unter der Überschrift „Nummer neun“ führten. Bei den Kroaten füllte Mario Mandzukic die Rolle des Strafraumstürmers aus, bei den Belgiern Romelu Lukaku, bei den Engländern Harry Kane und bei den Franzosen Olivier Giroud.

Anders als beim Ahnherren aller Strafraumspieler, dem unerreichbaren Gerd Müller, ist ihr Job nicht in erster Linie das Toreschießen. Die Strafraumstürmer der Gegenwart machen vorn Platz für ihre Nebenspieler, sie binden Verteidiger, und sie sind die ersten Abwehrspieler ihrer Mannschaften, wenn die mal nicht den Ball haben. Dass Giroud mit Frankreich Weltmeister wurde, zeigt den Wert solcher Athleten jenseits preiswürdiger Torschüsse. Giroud erzielte in Russland nicht einen einzigen Treffer. Aber er verschaffte den kleinen Zauberern Kylian Mbappé und Antoine Griezmann den Platz, den sie zur Entfaltung ihrer großen Fähigkeiten benötigen. „Man sieht, was er bringt, vor allem dann, wenn er nicht spielt“, sagt der Nationaltrainer Didier Deschamps über Giroud. Deshalb lässt er ihn in der Regel spielen – allen Widerworten in der Öffentlichkeit zum Trotz.

Auch wenn zu Zeiten eines beinahe totalen Fußballs, der von allen Spielern Fähigkeiten auf allen Positionen verlangt, vieles anders ist, findet Heynckes die wesentlichen Anforderungen an den Mittelstürmer unverändert. „Er braucht spezielle Eigenschaften. Er muss den Ball festmachen können, Lücken reißen und torgefährlich sein“, sagt Bayern Münchens Triple-Trainer von 2013. Das waren schon zu Heynckes‘ aktiven Zeiten die Anforderungen. Neu sei, dass es nicht mehr „reicht, vorne drinzustehen, die neuen Mittelstürmer müssen im Angriffstempo spielen können“. Und sie sollten ordentliche Zweikämpfer mit entsprechendem Durchsetzungsvermögen sein.

Das ist eine verhältnismäßig neue Entwicklung. Das Modell des fröhlich um den Strafraum kombinierenden „Neuneinhalbers“ („abgebrochene Neun“, wie Heynckes sagt) ist passend zu den fehlenden Erfolgen der spanischen Nationalmannschaft ein wenig auf den Index geraten. Borussia Mönchengladbachs Trainer Dieter Hecking erklärt: „Nachdem man sich (nicht nur) in der Bundesliga in den vergangenen Jahren offensichtlich am ohne klassischen Mittelstürmer auskommenden Vorbildern wie dem FC Barcelona, der spanischen Nationalmannschaft oder Pep Guardiola orientiert hat, kann man jetzt tatsächlich wieder mehr Interesse am Spielertyp des klassischen Mittelstürmers erkennen.“ Das sagt er aus eigener Anschauung. Gladbach hat in der Sommerpause in Alassane Plea eben so einen Typ verpflichtet – für stolze 23 Millionen Euro.

Die Borussia ist nicht allein. Dortmund holte Paco Alcacer, Wolfsburg Wout Weghorst, Mainz Jean-Philippe Mateta, Frankfurt hat bereits Sebastien Haller, Leverkusen Lucas Alario. Nicht nur Hecking fällt auf, „dass sich viele Bundesligisten im Ausland bedienen“. Der Gladbacher Coach ist aber „sicher, dass wir in Zukunft auch wieder deutsche Spieler mit diesem Profil ausbilden werden“. In Mario Gomez und Sandro Wagner sind die beiden vorerst Letzten dieser Art aus der Nationalmannschaft zurückgetreten. Nachwuchs ist in der Bundesliga nicht in Sicht.

Hecking und Heynckes waren selbst Stürmer. Deshalb verwundert es nicht, dass beide die neuerliche Wiedergeburt der Nummer neun erfreulich finden. Anhänger des Mittelstürmer-Modells aus reiner Nostalgie sind sie nicht. „Nichts darf Selbstzweck sein“, betont Heynckes, „auch der Ballbesitz-Fußball ist ja nun nicht passé, nur weil schneller nach vorn gespielt wird. Im Ballbesitz sind die Tempowechsel entscheidend.“

Diese Lektion musste die deutsche Elf bei ihrem rundherum misslungenen Zweieinhalb-Wochen-Gastspiel in Russland lernen. Sie spielte Ballbesitz-Breitwand-Fußball im Altherren-Tempo. Und vom segensreichen Wirken eines Strafraumstürmers war lediglich nach der Einwechslung von Mario Gomez im Spiel gegen die Schweden (2:1) etwas zu erkennen. Das war auch ein Grund für das miserable Abschneiden.

Manche haben es da besser als Bundestrainer Joachim Löw, dem seit 2014 (Miro Klose) Mittelstürmer von internationaler Klasse fehlen. Heynckes zum Beispiel. „Ich hatte das Glück, immer solche Spielertypen zu haben“, sagt der Altmeister. Für ihn waren echte Neuner nie aus der Mode.

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