Wo Kroos unrecht hat Warum „Scheißfragen“ gute Fragen sind

Meinung | Düsseldorf · Toni Kroos wollte nach dem Champions-League-Sieg plötzlich nicht mehr reden. Weil ein Reporter ihm „Scheißfragen“ gestellt hatte. Der TV-Eklat offenbart dabei ein grundsätzliches Missverständnis.

 Toni Kroos.

Toni Kroos.

Foto: dpa/Manu Fernandez

Eine der größten Faszinationen des Sports speist sich aus einem Mysterium. Von den über 100 Millionen Menschen, die so ein Champions-League-Finale sehen, wird praktisch niemand nachvollziehen können, wie es ist, bei einem Champions-League-Finale mitzuspielen. Geschweige denn, wie es sich anfühlt, den bedeutendsten Vereinswettbewerb dieser Sportart zu gewinnen. Das erklärt die ewig unbeantwortete Frage des Sportjournalismus: Wie fühlt sich das an? „Unbeschreiblich“ antworten artige Profis an der Stelle und erfüllen damit das Protokoll in der Sportart Fieldinterview. Wenn einer über die Linien der Antwortschablone malt, ist das bereits ein programmierter Aufreger.

Toni Kroos weiß, wie das Spiel läuft. Einer, der sein Leben und Wirken als ausreichend groß vermessen hat, um eine Kinoleinwand mit einem Film darüber zu füllen. Er hat schließlich alles gewonnen, von der Champions League sogar vorsichtshalber gleich mehrere Sicherheitskopien. Nur aufrichtige Anerkennung blieb ihm verwehrt. Darüber hat sich der 32-Jährige eine Haltung angeeignet, die häufig zwischen Selbstverteidigung und Angriffslust changiert. Ohne es auszusprechen, hat er die Fragen des ZDF-Reporter Nils Kaben nach dem minimalistischen 1:0-Sieg gegen Liverpool als Respektlosigkeit abgetan und in einem überaus erfreulichen Moment erstaunlich schlechte Laune bekommen. Dass ein Profi ein Interview wegen ungebührlicher Fragen abbricht, ist für Sender und Fragesteller gewiss mehr Fluch als Segen. Dass sich Kroos überhaupt dazu berufen fühlt, die Fragen derart zu bewerten und dafür von vielen Seiten Unterstützung erfährt, entlarvt jedoch ein grundsätzliches Missverständnis.

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Sportjournalisten müssen permanent mit Emotionen hantieren und sie gleichsam bedienen, Respekt bekunden, gratulieren, sich aber nicht zu nah herankumpeln. Der kroossche Furor offenbart aber, dass in Vergessenheit zu geraten scheint, dass die Fragesteller gleichzeitig einem journalistischen Auftrag nachgehen. Freilich ist ein Fieldinterview nicht das ergiebigste Format für tiefschürfende Analysen. Gleichwohl fragte Kaben nach schwierigen Phasen im Spiel und nicht etwa, wie sich Real denn bitte diesen Titel ergaunert habe. Dabei wäre die zwar erfolgreiche, jedoch beinahe planvoll spärliche Spielweise des stolzen Klubs in dieser Saison mehr als nur eine Klammer wert gewesen. Kroos war sich dessen natürlich bewusst und hatte daher bei der Erklimmung des europäischen Fußballgipfels nur das dünne Nervenkostüm übergestreift.

Wie der Zufall es wollte, saß im Expertengremium des ZDF derweil ein gewisser Per Mertesacker, der zwar Weltmeister ist, aber beinahe noch mehr für die Lobby der Eistonnenindustrie getan hat. Damals war Mertesackers heutiger Kollege Boris Büchler, der es gewagt hatte, nach einem phasenweise abenteuerlichen aber letztlich erfolgreichen Auftritt des deutschen Teams gegen Algerien auf sportliche Defizite hinzuweisen. Das genügte als Stichwort für einen vielbeachteten Wutausbruch, vergrätzte Mertesacker aber nur zwischenzeitlich – schließlich verhandelt er heute für eben jenen Sender die Leistungen ehemaliger Kollegen auf dem Feld. Am Samstagabend wiederum an der Seite von Moderator Jochen Breyer, der sich 2014 erdreistete, einen gewissen Jürgen Klopp nach einer 0:3-Niederlage gegen ein gewisses Real Madrid damit zu piesacken, dass „die Sache durch“ sei. War sie dann nur so halb. Weil es im Rückspiel noch mal spannend wurde und sogar der ZDF-Sportchef mit Klopp sprach, um die Angelegenheit zu klären. Dass die Verstimmungen auf Seite der Befragten selten nachhaltig sind, zeigt alleine die Durchlässigkeit zwischen Profitum und anschließendem Expertendasein.

Auch wenn man lange Abhandlungen über Takt und Geschmackssicherheit einzelner Fragen führen könnte, sind die vorauseilenden Demutsgesten, die Journalisten gegenüber Sportlern einnehmen, ein bemerkenswertes Alleinstellungsmerkmal des Sports. Dass Olaf Scholz sich nach einem Wahlsieg nicht über verlorene Stimmen äußern wollte oder gar breite Zustimmung erhalten würde, wenn ihm die Gratulation im Interview zu kurz kommt, steht nicht zu erwarten. Zwar lässt sich die kritische Distanz in der Politik nicht deckungsgleich auf den Sport übertragen, wenn Profis Journalisten aber als reine Marketingvehikel verstehen und sich kritische Fragen verbitten, liegt etwas im Argen.

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Es wäre ein mindestens genauso großes Missverständnis zu glauben, dass ein aus den Fugen geratenes Interview einem Sportjournalisten schlaflose Nächte bereitet. Allerdings sollten sich Profis mitunter vergegenwärtigen, dass Journalisten von  Berufs wegen mehr sein müssen als Gratulanten und Stichwortgeber. Sonst könnte ihren Job auch der Stadionsprecher erledigen. Während Fußballklubs zunehmend dazu übergehen, lästige Fragen und unliebsame Berichterstattung durch Abriegelung, weitreichende Korrekturen und homöopathische Gabe von Gesprächsmöglichkeiten zu regulieren und parallel selbst Inhalte veröffentlichen, die von journalistischen Produkten oft nur noch schwer zu unterscheiden sind, lässt sich in solchen Momenten erkennen, was Vereinsberichterstattung niemals zu leisten im Stande sein wird: wahrhaftige Aussagen einzufangen, aus einer souveränen Position kritisch zu beobachten und Fragen zu stellen, die sich Sportler nicht gerne stellen lassen. Allein dass Kroos sie als „Scheißfragen“ bewertete, unterstreicht erst ihre Berechtigung.

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Wenn es etwa nach DFL-Chefin Donata Hopfen geht, werden sich die Spieler aber allein zu Marketingzwecken noch ganz anderen Unannehmlichkeiten stellen müssen. Hopfen spielt schon offen mit dem Gedanken, Fieldinterviews per Drohne während des Spiels aufzuzeichnen – etwa vor Elfmetern. Ob er das für eine gute Idee hält, würde vielleicht sogar Kroos als eine gute Frage empfinden.

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