Champions-League-Finalist Real, der Club der alten Helden

Paris · Real Madrid steht wieder im Finale der Königsklasse, am Samstagabend geht es gegen den FC Liverpool. Doch anders als das Team von Jürgen Klopp lässt sich der Klub aus Spanien nicht so einfach einer bestimmten Spielidee zuordnen. Ein wiederkehrendes Merkmal gibt es aber doch.

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Foto: AFP/GABRIEL BOUYS

Der FC Liverpool steht für Tempo, für Pressing und Gegenpressing, wie es heute so schön heißt. Er steht für den typischen Fußball seines Trainers Jürgen Klopp. Manchester City steht für Ballbesitz, den Gegner zermürbende Passfolgen, auf dem Reißbrett entworfene, planvolle Aktionen, den typischen Fußball seines Trainers Pep Guardiola. Aber wofür steht Real Madrid, das es schon wieder ins Finale der Champions League geschafft hat, in dem am Samstag in Paris der FC Liverpool der Gegner ist?

In seinem Amt als sachverständiger Bürger hat Matthias Sammer in der „Sport-Bild“ versucht, das Phänomen Real zu erklären. Allzu weit kommt er dabei nicht. „Real“, sagt Sammer, „passt in diesem Jahr analytisch in überhaupt kein Schema.“ Beim FC Liverpool tut er sich leichter. „Bei analytischer Betrachtung der Parameter wie Verfassung, Spielidee, Spielwitz, Unberechenbarkeit, Rhythmus und der Fähigkeit, in schwierigen Situationen zurückschlagen zu können, ist Liverpool ganz eindeutig der Favorit“, erklärt er.

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Foto: AP/Manu Fernandez

Weniger analytisch betrachtet, fällt natürlich auch Sammer auf, dass sein Final-Außenseiter zumindest eine Fähigkeit hat, die auf den Fußballfeldern dieser Welt neben Taktik und bester körperlicher Vorbereitung häufig die entscheidende Rolle spielt: Er verfügt über Geist, Siegermentalität. Sammer macht es mit Staunen an den Spielen der K.o.-Runde fest, die fast alle nach dem Muster verliefen: Madrid liegt hinten, ist fast geschlagen und schlägt in aussichtsloser Lage zurück. Diese Geschichte beginnt im Achtelfinale gegen Paris Saint-Germain.

Sammers Rückblick: „Die Spanier waren so gut wie ausgeschieden, wurden beim 0:1 im Hinspiel aufgefressen und hatten auch zu Hause große Probleme und lange keine Lösungen. PSG­-Torwart Gianluigi Donnarumma bringt sie durch einen individuellen Fehler zurück ins Spiel, und was dann passiert, findest du in keinem Lehrbuch: diese Dynamik, dieser Geist, dazu vorne Karim Benzema. Danach kommt Chelsea im Viertelfinale, da ist Real zwischendurch wieder fast raus, sie kommen nochmals zurück und zeigen sportlich gewaltige Qualitäten. Das Gleiche im Halbfinale gegen Manchester City.“

Auch wenn es den Anhängern von Stil- und Strukturbeschreibung nicht passt, ist Real selbst ohne zuvor erkennbares taktisches Gerüst erfolgreich. Denn wenn es darauf ankommt, übernehmen die großen Einzelspieler das Geschehen, sie diktieren das Spiel mit ihrer Aura, ihrer Intuition, ihrem Gefühl für die Spielsituationen, ihrem außerordentlichen Können und ihrem Willen. Sie spielen, was die Fußball-Literatur spätestens seit den Zeiten der deutschen Weltmeister von 1974 „Heldenfußball“ nennen darf. Es ist eine schöne Ironie der Sportgeschichte, dass so etwas in der Phase hochgerüsteter Fußball-Wissenschaft und Lehrbuchgläubigkeit immer noch funktioniert.

Dafür bürgt bereits Trainer Carlo Ancelotti (62), der dem Team offenbar in all seiner entspannten Güte die Freiheit lässt, auf dem Platz die richtigen Entscheidungen zu treffen. Sammer, der selbst auf dem Rasen seine Rolle in größtmöglicher Freiheit interpretierte, nennt Ancelotti darum einen „alten, weisen Trainer-Vater“. Das hört sich fast an wie bei Karl May und seinen erfundenen Geschichten aus dem Wilden Westen. Wie Sammer ist May übrigens in Sachsen geboren. Vielleicht hilft das im Umgang mit Helden.

Ancelotti jedenfalls vertraut einem seit vielen Jahren eingespielten Gerüst in seiner Mannschaft. Dessen Herz schlägt im Mittelfeld mit dem Aufräumer Casemiro (30), dem Strategen Toni Kroos (32) und dem großen Künstler Luka Modric (36). Sie gehören ebenso wie der unglaubliche Torjäger Benzema (34) und etliche Kollegen zu einem Team der betagten Herren, das von jungen Hüpfern wie Benzemas Assistenten Vinicius Junior (21) und Rodrygo oder Mittelfeldspieler Eduardo Camavinga (19) aufgefrischt wird. Den Ton geben allerdings im Club der alten Helden die erfahrenen Fußballer an.

Sie scheren sich nicht um taktische Vorgaben, sie legen selbst den Schalter um und spielen ihren Stil, der sich der tiefen Analyse einfach entzieht. Ein bisschen ist das so, wie es der große Franz Beckenbauer seiner Weltmeister-Elf von 1990 mit auf den Weg gab: „Geht’s raus und spielt’s Fußball.“ Seine Helden waren Lothar Matthäus, Rudi Völler, Andreas Brehme und Pierre Littbarski. Die brauchten keine Taktiktafel.

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Foto: dpa/Adam Davy

Natürlich hat Ancelotti alle zeitgemäßen Hilfsmittel zur Hand und ein kleines Heer an Assistenten am Spielfeldrand, das ihn mit allen Details versorgt. Die Züge, auch seine Einwechslungen bespricht er aber noch während der Partie mit seinen Führungsspielern – zuletzt beim Halbfinale gegen Manchester City, als die ausgewechselten Kroos und Modric zu Co-Trainern wurden.

Citys Coach Pep Guardiola sah es wahrscheinlich mit Grausen. Er liebt weder Mitbestimmung noch Improvisation. Zum Heldenfußball neigt sein Team nicht. Im Halbfinale ist es deshalb ausgeschieden.

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