Ekstase und Kaffee Wie der Torjubel zur Kunstform wurde

Meinung | Düsseldorf · In grauer Vorzeit wurden Tore im Fußball einfach nur bejubelt. Schon seit Jahrzehnten haben sich um die schönsten Momente des Spiels zunehmend durchchoreografierte Shows entsponnen. Nun hat Kölns Anthony Modeste ein Tor sogar für Werbung genutzt. Das lässt erahnen: die Zukunft wird bunt.

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So spottet das Netz über Modeste nach Kaffee-Jubel

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Es gab mal eine Zeit, da sprach man von Torjubel, wenn Menschen gejubelt haben, weil ein Tor gefallen ist. Das tun sie freilich noch immer: auf Stadiontribünen, vor Fernsehern oder beim Blick aufs Telefon werden Fäuste geballt, Mitjubelende an sich gepresst und spitze Laute ausgestoßen. Soweit wir über Fußball reden, hat es sich hingegen bei den Spielern schon lange ausgejubelt. Evolutionär wurzeln die heute dargebotenen Aufführungen nach Toren in der ungefilterten Freude, der Gerd Müller einst mit einem kurzen Hüpfer und erhobenen Armen Ausdruck verlieh. Dass Robert Lewandowski ihm beim Abriss des noch immer unablösbar mit Müllers Namen verhafteten Torrekord-Denkmals mit einer weitsichtig vorbereiten Grußbotschaft huldigte, fasst ganz gut zusammen, was in dem halben Jahrhundert zwischen Müller und Lewandowski schiefgelaufen ist.

Der Pole wirkt in mancher Hinsicht wie ein aus der Tiefe eines Reinraums entfleuchtes Experiment. Ein glitschiger Maximalprofi, der sich in lebenslanger Fleißarbeit jede Reibungsfläche abtrainiert, Körper und Können ausgefeilt hat und einem wie im Rechenzentren ausgeklügeltem Karriereplan folgt. Natürlich musste einer, der Gelegenheiten zum Üben hat wie kaum ein Zweiter, sich irgendwann einen ureigenen Torjubel zulegen. Mit vor der Brust gekreuzten Armen, ausgestreckten Zeigefingern und halb heraushängender Zunge beging der Pole irgendwann seine Tore und versuchte das in Ermangelung von Sinnhaftigkeit als „intuitiv“ zu verkaufen. Seine Frau habe ihn dann darauf aufmerksam gemacht, dass die verschränkten Arme tatsächlich ein X-Chromosom symbolisierten. Wenig später wurde sie schwanger mit Tochter Klara. Eine der aufregenderen Geschichten über die Lewandowskis.

Die verrücktesten Torjubel im Fußball
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Die verrücktesten Torjubel

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Auch ein so hingebungsvoll farbloser Typ wie der Pole hat sich seine eigene Signatur angeeignet, weil Torjubel im Fußball moderner Prägung mehr sind als nur Nippes. Daumenlutschen, Aufleuchten, Doppelarmschwingen, Luftküsse, Windmühle, Rückwärtswurm, Matador, Fliegender Tauchgang, Zeitprüfung – alles Torjubel beim Konsolenspiel Fifa, falls beim nächsten Kneipenquiz jemand fragt. Wer von der zugehörigen Zielgruppe nicht nur gespielt, sondern auch geliebt werden will, kann ohne individuelle Zelebration auch gleich Tischtennis mit der Hand spielen. In ihren guten Momenten können Torjubel nahezu ikonisch groß geraten. Lilian Thuram, der Frankreich 1998 ins WM-Finale wuchtete, aber jede Ekstase verweigerte und versonnen mit dem Zeigefinger über dem Mund ins Nichts starrte. Mario Balotelli, der Deutschland 2012 aus der EM schoss und mit seiner Muskelpose plötzlich auf dem Warschauer Rasen stand wie von Michelangelo genau dort hingemeißelt. In der Bundesliga zogen es Dortmunds Marco Reus und Pierre-Emerick Aubameyang nach einem Sieg im emotional aufgeladenen Revierderby gegen Schalke vor, sich mit Maske und Augenbinde als Batman und Robin zu verkleiden und sich damit neben einer Gelben Karten erfolgreich für einen Platz in der jüngeren Geschichte dieses Derbys zu bewerben.

Dass etwas im Schwange ist, konnte man bereits ahnen, als irgendwann in den 90ern auch in Wolfsburg oder Meppen plötzlich Samba vor Eckfahnen getanzt wurde. Nicht viel später kamen schon die Ball-unters-Trikot-Schieber, Babywieger und Daumenlutscher, küsste Carsten Jancker seinen Ehering, überschlug sich Miro Klose. Alles noch vergleichsweise kindliche Gehversuche. Als im modernen Fußball die Entgleisung auf allen Ebenen scheibchenweise zum Prinzip wurde, vereinnahmten die Profis den Jubel zunächst für sich und machen nun auch daraus Geld. Zunächst noch mittelbar, weil er auf die eigene Marke einzahlt. Es ist aber gewiss nur eine Frage der Zeit, bis der erste Profi seinen Jubel etwa als Non-Fungible Token verhökert. Kurz heißt das NFT. Lang und kaum verständlicher: ein kryptografisch verschlüsseltes Token, das einen digitalen oder physischen Gegenstand auf einer Blockchain repräsentiert. Das kann etwa ein Bild von einem Affen sein, das unter technischem Höchstaufwand fälschungssicher verschlüsselt ist. Entscheidend ist dabei allein, Käufer zu finden, auf die das Angebot eine ausreichend große Wertanmutung entfaltet, um das Portemonnaie zu öffnen. Die Erfahrung zeigt, dass das sogar mit digitalen Affenbildchen funktioniert. Warum also nicht die Rechte an seinem eigens entworfenen Ringelreigen zu Geld machen.

Kölns Anthony Modeste blieb bei seinem Kaffee-Jubel vorerst noch ganz in der analogen Welt verhaftet. Die vielleicht charmanteste Kölner Verkaufsveranstaltung seit Harry Wijnvoord „Der Preis ist heiß“ moderiert hat. Das vermeintlich teure Nachspiel wird sich für den Franzosen vermutlich rentieren durch einen Werbeplatz, der Millionen Fußballfans erst darüber informiert hat, dass Modeste jetzt neben Toren auch Kaffee macht. Die routinierte Entrüstung über diese Entgrenzung markiert nur noch den Grad der bereits erreichten Abstumpfung. Über die (zu) vielen Torjubel der Ein-Mann-Clownschule Modeste kann man ohnehin zu unterschiedlichen Bewertungen kommen. Ob Brillenjubel oder diverse Späße mit Trainer Baumgart, der nun plötzlich keinen Spaß mehr verstand. Zum Ausdruck reiner Freude über ein erzieltes Tor stehen die Showeinlagen Modestescher Prägung in keinem engeren Verwandtschaftsverhältnis mehr. Dass er sich in der Rolle des Schlingels, der am Ende noch mit allem davongekommen ist, genauso gefällt wie dem Kölner Publikum, dürfte wohl dazu beitragen, dass ihm das auch diesmal nur wenige krummnehmen. Im Grunde ist es ja auch völlig einerlei. Wenn der Fußball schon die Litfaßsäule der Weltwirtschaft ist, dann sollte er zumindest konsequent bleiben.

Österreich war bislang eher selten ein Vorbild, wenn es um Fußball geht. Die Dringlichkeit, mit der die Nachbarn ihren Sport aber durchkommerzialisiert haben, kann einem durchaus imponieren. Da spielt der World of Jobs VfB Hohenems, hießen Klubs Komm&Kauf Vorwärts Österreich oder konvertierten gleich ganz von SC Untersiebenbrunn zum SC interwetten.com. In Deutschland muss man da noch deutlich spaßärmer etwa mit dem Langnese Happiness Stadion Vorlieb nehmen, in dem der FC Bergedorf 85 seine Heimspiele austrägt. An mangelnder Bereitschaft, sich selbst und seinen Torjubel zu Markte zu tragen, sollte das aber nicht scheitern.

Wie innig die Beziehung zwischen Fußballern und ihren persönlichen Geldgebern ist, hat Bayern-Torwart Manuel Neuer in einem seiner bemerkenswerteren Interviews mit dem „Kicker“ offenbart. Man möchte nur einmal so geliebt werden wie die Unternehmen, denen er ein derart liebevolles Plädoyer säuselte: „Ich wähle Partner, hinter denen ich auch stehe. Es muss zu mir passen. Allianz zum Beispiel steht für Rückhalt, wie ich als Torwart auch. Coke Zero steht für das Zu-null, das ich immer schaffen will; Sony für die Schärfe des Bildes, die ich auch benötige.“

Vielleicht hilft es, wenn man das Schicksal einfach klaglos umarmt, wenn Neuer demnächst nach jedem Spiel ohne Gegentreffer mit den Armen einen Kreis bildet, um (Coke) „Zero“ zu symbolisieren. Vielleicht könnte er seinen bürgerlichen Namen auch für eine Saison in Manuel Nuller ändern. Oder gleich das ganze Team des FC Bayern den Platz der schmerzresistentesten Zuschauer in der Allianz-Arena einnehmen, die dort als weißes „T“ formiert sitzen. Wenn Leon Goretzka seine Gegner rasiert und anschließend selbst zum neuen Braun-Rasierer greift oder Mats Hummels sich auf dem Platz die Haare wäscht, wird das in der Deutschen Vermögensberatung Halbzeitanalyse auf Sky sicher fachkundig analysiert. Alles natürlich orchestriert von Beschallung, Lichtshow und einstudiertem Wechselgesang zwischen Stadionregie und Publikum. Ein Marktplatz der Werbemöglichkeiten. Gerd Müller hätte das vermutlich mit einem körpersprachlich unprätentiösen Achselzucken hingenommen. Früher war eben alles anders.

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