Michael Hilgers "Videobeweis macht den Fußball fairer"

Mönchengladbach · Michael Hilgers, Hockey-Olympiasieger von 1992 plädiert für Regeländerungen im Fußball. Abseits und Schiedsrichterassistenten würde er abschaffen und den Videobeweis sowie fliegende Wechsel einführen. Seine Sportart hat sich flexibel gezeigt.

 Michael Hilgers.

Michael Hilgers.

Foto: Ilgner Detlef

DFB-Manager Oliver Bierhoff spricht darüber, das Abseits abzuschaffen, Rekordnationalspieler Lothar Matthäus hat für "Sport Bild" den Fußball ohne Abseits bereits getestet. Der Videobeweis ist immer wieder ein Thema, wenn es Fehlentscheidungen gibt. Im Hockey gibt es längst kein Abseits mehr und der Videobeweis ist Usus. Michael Hilgers, 1992 Olympiasieger mit dem deutschen Hockeyteam und bei einer Champions Trophy Schütze des ersten Tores nach der Abschaffung des Abseits, plädiert im Gespräch mit Karsten Kellermann dafür, auch im Fußball das Abseits abzuschaffen, das Schiedsrichterwesen zu revolutionieren und den Videobeweis einzuführen.

Herr Hilgers, sprechen wir über den Videobeweis. Zuletzt wurde über ein Handtor von Gladbachs Lars Stindl diskutiert. Wäre der Treffer beim Hockey gegeben worden?

Hilgers Natürlich nicht. Hand ist Hand und Fuß und Fuß, egal ob es eine Verbreiterung der Körperfläche ist oder nicht. Das ist eindeutig. Im Fußball gibt es, so habe ich gelesen, eine Regel, die besagt: Geht der Ball erst an den Körper und dann an die Hand, dann ist es kein Handspiel. Für mich ist das nicht nachzuvollziehen.

Was wäre beim Hockey passiert?

Hilgers Ingolstadt hätte einen Videobeweis angefordert. Aber dazu wäre es sehr wahrscheinlich gar nicht gekommen, weil der Spieler sofort gesagt hätte, dass es Hand war. Er hätte gewusst, dass der Videobeweis das zeigt.

Heißt das, dass Hockeyspieler moralischer sind?

Hilgers Nein, das will ich damit nicht sagen. Es geht doch bei den Regeln um zweierlei: um Fair Play und um die Attraktivität des Sports. Das zusammenzukriegen ist nicht immer einfach, aber an erster Stelle sollte immer die Fairness stehen. Für mich ist der Videobeweis die ultimative Möglichkeit, das Spiel so fair wie möglich zu machen. Für die Spieler, für die Zuschauer - aber auch für die Schiedsrichter. Man muss doch ehrlich sein: Das Spiel ist sehr schnell geworden und manche Sachen sind daher gar nicht mehr mit bloßem Auge zu erkennen. Darum glaube ich, dass viele Schiedsrichter hoffen, dass der Videobeweis kommt, damit sie bei wichtigen Entscheidungen eine seriöse und objektive Instanz an der Seite haben. Und für die Spieler ist es sozusagen eine Gewissens-Instanz. Sie wissen genau, dass sie entlarvt sind, wenn der Videobeweis kommt. Dann kann man es auch gleich sagen.

Wie ist das Prozedere beim Hockey?

Hilgers Jedes Team darf den Videobeweis immer anfordern. Es gibt grundsätzlich zwei Videobeweise pro Spiel. Ähnlich ist es auch beim Tennis geregelt.

Kann man in einem mit 80.000 Menschen besetzten Stadion so etwas durchziehen? Spielt das Publikum eine Rolle?

Hilgers Das darf nicht so sein. Zumal man das Publikum mitnehmen kann. Die Entscheidungen werden ja erklärt. Und es gibt ja auch bei anderen Sportarten viele Zuschauer - und in jeder anderen Sportart gibt es den Videobeweis: beim American Football, beim Basketball, beim Eishockey. Es ist für mich unglaublich, dass der Fußball, in dem es um so viel Geld geht, den Videobeweis nicht hat. Ich finde das unprofessionell, weil ganz einfach zu viele Fehlentscheidungen dabei sind.

Beim Hockey gibt es zwei Schiedsrichter, die entscheidungsberechtigt sind. Welche Rolle spielt das?

Hilgers Eine große. Das Spiel ist sehr schnell geworden und darum braucht es zwei Schiedsrichter, die entscheiden können. Beim Fußball gibt es nur einen Mann mit der Pfeife. Beides hat Vor- und Nachteile, natürlich. Aber in Abwägung aller Argumente glaube ich, dass es mehr Sinn macht mit zwei Schiedsrichtern, ganz einfach, weil der Überblick dann größer ist. Und in meinen Augen ist die einzige Regel, die Assistenten an der Linie nötig macht, die Abseitsregel. Und die würde ich abschaffen.

Die Assistenten oder die Abseitsregel?

Hilgers Beide. Die Assistenten sind dann ja nicht mehr notwendig, dafür würde ich den zweiten Schiedsrichter einführen. Sicher, das wäre eine Revolutionierung des Schiedsrichterwesens, aber man muss über alles nachdenken, wenn es dem Fußball hilft. Vor allem aber muss die Abseitsregel weg. Das würde die Qualität des Spiels erhöhen, ganz sicher.

Erklären Sie das.

Hilgers Das Spiel wird auf jeden Fall offensiver, es gibt mehr Platz im Mittelfeld, es wäre ein Vorteil für Techniker und Stürmer.

Letztere würden dann nur vorn stehen und auf Bälle warten.

Hilgers Es würde ganz neue Taktikmodelle geben. Vor allem aber würde das Spiel fairer, ganz einfach, weil viele Fehlentscheidungen wegfallen würden. Ich würde mal sagen, dass es pro Spiel zwei, drei Situationen gibt, wo die Schiedsrichter falsch liegen - auch, weil sie es nicht besser sehen können. Nehmen wir das Spiel zwischen Frankfurt und Freiburg - ohne die Abseitsregel hätte es da keine Debatten gegeben. Tor ist dann Tor, fertig.

Der Fußball hat die Tatsachenentscheidung.

Hilgers Das ist für mich keine Begründung für Sinn und Unsinn einer Regel.

So ist die Tatsachenentscheidung ein Festlegungsmodell, das Fakten schafft.

Hilgers Aber ein willkürliches. Man sagt einfach: Das ist jetzt so. Das kann ich als Leistungssportler doch nicht akzeptieren. Gehen wir mal weg von den Topligen, runter in die Kreisligen: Ich möchte nicht wissen, wie viele Fehlentscheidungen es da jedes Wochenende gibt. Das könnte man durch die Abschaffung der Abseitsregel deutlich reduzieren. Außerdem würde das Spielfeld viel größer werden und das Spiel würde offensiver sein. Es gäbe viel mehr Eins-gegen-Eins-Situationen. Und das wollen die Leute sehen. Und es würde es weniger Aggressivität im Stadion geben, weil die Fans nicht das Gefühl haben, dass ihr Team benachteiligt wird. Über die Videotafel würde man die Situationen aufklären können.

Aber es würde dem Fußball auch die Magie nehmen. Stichwort Wembley-Tor oder die Hand Gottes.

Hilgers Das sind für mich keine Argumente. Aber das ist nur gut für die, die weiterkommen. Als damals die Franzosen durch ein irreguläres Tor Irland aus der WM-Quali warfen, haben die Iren das sicher anders gesehen. Und zu sagen: Es gleicht sich alles aus, ist Quatsch. Irland hatte die WM verpasst - durch eine Fehlentscheidung. Es kommt in solchen Situationen immer auf die Perspektive an. Das ist auf gewisse Weise eine Doppelmoral. Sicher muss man sich im Klaren sein, dass das Spiel zur Klärung unterbrochen wird, doch die Zeit kann man durch zwei, drei andere Regeländerungen wieder reinholen.

Zum Beispiel?

Hilgers Das dämliche Warten bei Auswechslungen. Wer macht denn so etwas heute noch? Im Hockey, im Handball, im Eishockey - überall gibt es Interchanging, fliegende Wechsel. Es ist alles im Fluss. Und was spricht dagegen, dass auch im Fußball einer zur Wechselzone läuft, abklatscht und dann der andere reingeht? So würde auch das nervige Wechseln in der Schlussphase aufhören, wo es doch nur darum geht, Zeit zu schinden. Außerdem gibt es auch keine Sportart auf der Welt, in der die Zeit nicht gestoppt wird bei Unterbrechungen und der Schiedsrichter dann entscheidet, wie lange gespielt wird. Das ist irre. Auch das ist ein Thema der Fairness. Zum Beispiel: Wenn der Ball weggeschlagen wird, würde die Zeit angehalten. Das würde es nicht mehr geben, weil es einfach nichts bringt.

Ist der Fußball bereit für solche Änderungen?

Hilgers Das glaube ich schon. Oliver Bierhoff hat das Thema Abseits ja angesprochen, das Thema Videobeweis ist in Teilen umgesetzt durch die Torkamera. Der Fußball hat es allerdings recht einfach, weil er machen kann, was er will. Es schaut ja trotzdem jeder. Beim Hockey ging es bei den Regeländerungen auch darum, den Sport attraktiver auch für Nicht-Hockeyleute zu machen. Natürlich könnte man daher sagen: Den Leuten gefällt der Fußball, wie er ist, wir lassen alles so. Aber wenn es nur darum geht, dass es weiter Stammtischdiskussionen gibt, dann ist das für mich eine Soap Opera. Es ist ein toller Sport, und man sollte alles dafür tun, ihn noch attraktiver zu machen. Ich finde: Darum muss es Regeländerungen geben. Beim Hockey hat man sich zu gewissen Zeitpunkten sinnvolle Gedanken gemacht und sie umgesetzt. Der Selbstpass wäre auch nicht uninteressant für den Fußball, auch er würde das Spiel schneller machen. Man kann auch darüber nachdenken, dass mehr Spieler ausgewechselt werden dürfen. Es gibt auf jeden Fall Verbesserungspotenzial im Fußball. Durch einige Regeländerungen kann man den Sport fairer, attraktiver und transparenter machen.

(RP)
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