Legendäre Endspiele 1922 Als eine Saison ohne Meister endete

München · Noch weiß angesichts der Corona-Pandemie keiner, ob es 2020 einen deutschen Fußball-Meister geben wird. Erst einmal in der Historie endete eine Saison ohne Titelträger - allerdings aus ganz anderen Gründen.

 Auf der Meisterschale sind für die Saison 1921/22 zwei Teams als Meister eingraviert.

Auf der Meisterschale sind für die Saison 1921/22 zwei Teams als Meister eingraviert.

Foto: dpa/Sven Hoppe

Stell dir vor, es ist Bundesliga - und keiner wird Meister! Ein Szenario, das in Zeiten der Corona-Krise trotz aller Bemühungen der Deutschen Fußball Liga (DFL) und der Klubs derzeit (noch) keiner mit Sicherheit ausschließen kann. Historisch wäre es nicht: Schon 1922 hatte es aus kuriosen und heutzutage unvorstellbaren Umständen im deutschen Fußball keinen Titelträger gegeben. Auf die Meisterschale sind heute deshalb die beiden damaligen Endspiel-Teilnehmer graviert: der 1. FC Nürnberg und der Hamburger SV.

Aber wie kommt es bei der 15. Meisterschaft seit der Einführung 1903 überhaupt soweit? Am 18. Juni 1922 stehen sich im "Deutschen Stadion" in Berlin der Club und der HSV im Finale gegenüber. Nach 90 Minuten steht es 2:2. Ein Elfmeterschießen ist damals noch nicht vorgesehen - also soll bis zur Entscheidung weitergespielt werden.

Doch nach drei Stunden und neun Minuten (!) muss Schiedsrichter Peco Bauwens, der spätere DFB-Präsident, eine überhart geführte Partie wegen einbrechender Dunkelheit beenden. Ein Flutlicht gibt es nicht. Bis zum Abbruch werden die völlig erschöpften und angeschlagenen Spieler (Auswechslungen sind nicht erlaubt) 19-mal von Sanitätern behandelt, Bauwens selbst bricht nach 165 Minuten von Wadenkrämpfen geplagt zusammen.

Als ein Journalist Nürnbergs legendären Torwart Heiner Stuhlfauth nach dem Spiel fragt, ob es am nächsten Tag weitergehen solle, antwortet der entsetzt: "Sie sänn gwieß närrisch."

Doch auch beim Wiederholungsspiel am 6. August in Leipzig überschlagen sich die Ereignisse auf dramatische Weise. "Ein Schlachten war's", schreibt eine Zeitung später martialisch. Nach 18 Minuten fliegt der Nürnberger Mittelstürmer Willy Böß vom Platz. "Obgleich der Ball weg war, erhob er sein Bein gegen einen am Boden liegenden Hamburger", hält Bauwens, der die Partie erneut leitet, in seinem Spielbericht fest.

FCN-Vereinspräsident Ludwig Bäumler ist sauer auf den Übeltäter: "Böß' Verhalten war ein Vorkommnis, das geeignet war, nicht nur unsere Hoffnungen, sondern auch unseren sportlichen Kredit ins Wanken zu bringen." Der Club geht dennoch durch Heinrich Träg (48.) in Führung, Karl Schneider gleicht für den HSV aus (69.). Vier Minuten später verletzt sich der Nürnberger Anton Kugler, die Franken retten sich mit acht Feldspielern in eine erneute Verlängerung.

Dort fliegt zunächst Torschütze Träg wegen einer Tätlichkeit vom Platz. "Die Handlung war derart gemein", schreibt Bauwens, "dass ich nahe dran war, das ganze Spiel jetzt schon abzubrechen." Es geht aber weiter - bis der Clubberer Luitpold Popp nach Ende der ersten Verlängerung entkräftet zusammenbricht. Bauwens bricht den Statuten gemäß ab. Der Deutsche Fußball-Bund (DFB) erklärt den HSV zum Meister, weil der Club "durch das unsportliche Verhalten zweier seiner Mitglieder, das dann deren Ausschließung zur Folge hatte, den Abbruch selbst verschuldete".

Nürnberg erhebt erfolgreich Einspruch, beim folgenden DFB-Bundestag wird mit 53:35-Stimmen erneut für den HSV entschieden. Doch die Hamburger verzichten letztendlich auf die damalige Viktoria-Trophäe, angeblich auf Druck des DFB. Die wahren Gründe bleiben verborgen - was bleibt, ist ein Spruch von Stuhlfauth: "Wenn man in einem Spiel vier Stund' lang spielt, lernt man sich richtig kennen - kameradschaftlich und charakterlich."

(sid)
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