Alle Bundesliga-Artikel vom 24. Juli 2003
Vom "Rebell am Ball" zum Milliarden-Jongleur

Die zweite Karriere des Günter NetzerVom "Rebell am Ball" zum Milliarden-Jongleur

Neuss (rpo). Wenn Günter Netzer Länderspiele analysiert, kleben die Fans an seinen Lippen. Moderator Gerhard Delling gibt da allenfalls noch Stichworte. So ähnlich soll sich Netzer auch bei seinen Geschäftspartnern verhalten, aus dem Fußballer ist längst ein millionenschwerer Manager geworden. Wenn Günter Netzer das Leben des Managers im Jetset allzu sehr gestresst hat, dann sucht er den Freiraum, den er sich schon als genialer Fußballer viel stärker als andere zu schaffen vermochte. Dann gibt er schon mal vor, das Handy habe momentan keinen Empfang. Oder er schickt Frau und Tochter mit dem Flugzeug voraus und folgt mit dem Ferrari. So lieb und teuer sind Günter Netzer, inzwischen 58, die Momente der Einsamkeit. Der "Rebell am Ball", so ein Buchtitel über den genialen Fußballer, ist rund 30 Jahre nach seinen Sternstunden bei Borussia Mönchengladbach, Real Madrid und in der Fußball-Nationalmannschaft ein Milliarden-Jongleur im Fernsehrechtehandel. Nach dem Zerfall des Kirch-Imperiums besitzt sein Schweizer Unternehmen "Infront" nun die Anteile des insolvent gewordenen Münchners, der für die TV-Rechte an der Fußball-WM 2002/2006 seinerzeit 3,4 Milliarden Mark gezahlt hatte. Zuletzt vermarktete Günter Netzer die Bundesliga-Rechte für die kommende Saison mit bislang 256 Millionen Euro. Netzer, der Mann mit starken rechten Fuß, hatte schon damals ein Händchen für Geschäfte. Noch als Spieler wurde er Verleger der Gladbacher Stadion-Zeitschrift, des heute noch bestehenden "Fohlen-Echo". Außerdem war er Besitzer der Diskothek "Lovers Lane" - Straße der Liebenden. Welcher Fußball-Spieler sonst hat es in den 70er Jahren gewagt, eine eigene Disco zu betreiben? Tankstellen und Lotto/Totto-Annahmestellen waren das höchste. Netzer flog nach Spielende nach München, um Regisseur Michael Pfleghar und andere Berühmtheiten zu treffen - und kehrte montags zum Morgentraining zurück. Seine Auseinandersetzungen mit Hennes Weisweiler sind Legende. Berti Vogts musste den Vermittler spielen: "Sag deinem Trainer... oder Sag deinem Kapitän...". Kein Zufall, dass Vogts, Heynckes, Schäfer, Bonhof und viele andere Trainer wurden. Netzer eiferte den Bayern nach und wurde Geschäftsmann. Er lernte erst in Madrid, dass "weiß" nicht "Unschuld" bedeutet, und dann in Zürich Geschäfte a la Suisse. Kein Zufall, dass er in Zürich wohnt, seine Firma ihren Sitz aber in Zug hat. Günter Netzer, der aus der "Tiefe des Raumes" kam (noch ein Buchtitel), ist an seine Grenzen gestoßen. Das Haus, das der Vater einer Teenagerin mit seiner Ehefrau Elvira bewohnt, liegt am Zürich-See - weiter geht es nimmer. Heimat? Heimat gibt es nimmer. In Mönchengladbach macht er sich mehr als rar, und Zürich ist für Günter Netzer ein Flughafen-Drehkreuz, um in die Welt zu gelangen. Anfang der 80er Jahre wollte er - wie zuvor in Mönchengladbach - auch in Hamburg die Stadion-Zeitung kaufen. Er wurde Manager, hatte Zebec, holte Happel, Beckenbauer, und dank Felix Magath auch den Europapokal der Landesmeister. Netzer heute: Den Leuten bekannt als ironischer, zynischer, jedenfalls gnadenloser Analysator der Leistungen der deutschen Nationalmannschaft. Gerhard Delling muss als Stichwortgeber herhalten. So ähnlich soll Netzer auch in Geschäftsverhandlungen sein. Erfolgreich macht er den Spagat: Einerseits nutzt Günter Netzter seine Popularität, die er sich durch die Länderspiel-Kommentare in der ARD geschickt verschafft und ausbaut, um im "richtigen" Berufsleben erfolgreich zu sein. Andererseits mag er es gar nicht, wenn darüber (zu) groß berichtet wird. Netzer war und ist ein Individualist. Er hat viel zu wenige Länderspiele gemacht, weil Wolfgang Overath Teamspieler war, wo Günter Netzer Unterordung verlangte. Zugegeben, war schwierig Anfang der 70er. Und er war und ist einer, der selten verliert - so wie im Uefa-Cup-Finale 1973 gegen den FC Liverpool. An zwei Sternstunden Netzers werden sich aber all jene, die sie miterlebten, wohl ewig erinnern: 29. April 1972. Viertelfinale der Europameisterschaft, damals noch mit Hin- und Rückspiel in beiden Ländern ausgetragen. Deutschland tritt im Wembley-Stadion an - und besiegt England erstmals auf der Insel. 3:1 lautet das Resultat, Netzer führt glänzend Regie, verwandelt einen Elfmeter nervenstark in der 85. Minute zur 2:1-Führung. 23. Juni 1973. Pokalfinale im Düsseldorfer Rheinstadion. Borussia Mönchengladbach gegen den 1. FC Köln, das rheinische Derby, das Match der Rivalen. Und Günter Netzer sitzt wegen Formschwäche nur auf der Bank. Es ist das letzte Kapitel im ewigen Krach zwischen dem Trainer Hennes Weisweiler und seinem Star, denn nach diesem Spiel wir Günter Netzer zu Real Madrid wechseln. Ob Weisweiler seinem Star diesen "Verrat", den er zwei Jahre später selber begehen wird, übel genommen hat? Niemand wird es mehr erfahren. Nach 90 Minuten jedenfalls steht es 1:1, und Christian Kulik, der Netzer-Ersatz als Spielmacher, ist völlig ausgelaugt. Da geht Netzer zu Weisweiler und sagt: "Ich spiele." Wechselt sich ein, erhält nach zwei Minuten einen Pass von Rainer Bonhof, schießt, der Ball rutscht ihm ein wenig über den Spann, dreht sich, und schlägt oben im linken Winkel ein...