Borussia Mönchengladbach "Lucien Favre hat Charisma"

Mönchengladbach · Der Hamburger Medienwissenschaftler spricht über die Mythenbildung im Fußball, den Reiz von Traditionsduellen wie Gladbach gegen Schalke und das öffentliche Bild von Borussias Trainer.

Herr Weischenberg, Sie sind Sympathisant von Borussia Mönchengladbach, weil Sie den Fußball der Fohlenelf mochten. Wie sehen Sie den Klub heute aus der Entfernung?

Weischenberg Im Moment gibt es ja einen neuen Hype um Borussia. Die Mannschaft spielt erfolgreich. Ich lebe in Hamburg und habe das Spiel beim HSV gesehen — das Gladbach ja glücklich gewonnen hat (grinst). Die Fehler von Sobiech waren grausam. Aber wenn ein Team oben steht, holt es eben so die Punkte.

Dass der Klub im allgemeinen Gedächtnis noch so gut gelitten ist, hängt sicherlich mit der Tradition zusammen. Die ist zu einem gewissen Grad zum Mythos geworden, der natürlich auch in den Medien transportiert wird. Was macht so einen Mythos aus?

Weischenberg Das sind besondere Spiele und besondere Charaktere. Ich erinnere mich an das 7:1 gegen Inter Mailand. Ich habe damals noch als Sportredakteur gearbeitet und habe am Tag nach diesem Spiel ein Interview mit Günter Netzer geführt. Er hatte einen Termin in einer Bank oder so ähnlich. Er war noch total euphorisiert und wusste noch nicht, dass das Spiel annulliert wird. Mythen wie diese werden gepflegt und weitergetragen, von den Klubs und den Medien. Allerdings ist das kein Freischein für den Erfolg. Das zeigt sich beim Hamburger SV. Dem hängt die Tradition wie ein Klotz am Bein. Der Verein hat nicht verstanden, sinnvoll damit umzugehen. Das ist in Gladbach anders.

Wie groß ist der Einfluss der Medien auf den Fußball?

Weischenberg Massiv. Bis zu einem gewissen Grad kann man sicherlich sagen, dass der Fußball an der Nadel der Medien hängt. Das ist in Italien und England noch extremer, da ist der Fußball auf dem hohen Niveau ohne die Medien und deren Geld nicht vorstellbar. Aber der Fußball muss aufpassen, dass er sich nicht zu viel vorgeben lässt. Das wäre nicht gesund.

Für die Medien sind besonders Derbys oder die Spiele zweier Traditionsvereine von großem Interesse. Warum?

Weischenberg Natürlich spielt die Tradition da eine Rolle. Aber ich wehre mich dagegen, dass es nur darüber erklärbar ist. Der aktuelle Erfolg spielt auch eine Rolle. Würden Gladbach und Schalke irgendwo im Mittelmaß rumdümpeln, wäre das Spiel weniger interessant. Beide sind aber recht erfolgreich und sind direkte Konkurrenten. Daraus resultiert die große Aufmerksamkeit, daraus ergeben sich die emotionalen Faktoren, die in den Medien gern transportiert werden.

Dass es um das Tagesgeschäft geht, zeigt auch die Tatsache, dass die Halbwertzeit von Themen gering ist. Ist das die Schuld der Medien?

Weischenberg Insofern stimmt das, weil die Medien sind, wie sie sind. Aktualität hat nun mal eine geringe Halbwertzeit. Nachrichten sind am Tag, an dem sie in der Zeitung stehen, alt. Zudem sind die Medien und ihre Berichterstattung auch immer den Strömungen der öffentlichen Meinung unterworfen. Die Fans sind mit Leidenschaft dabei, das nehmen auch die Medien als Beobachter wahr.

Wie ist die öffentliche Sicht auf Borussias Trainer Lucien Favre?

Weischenberg Er ist definitiv ein Faktor für den neuen Erfolg der Gladbacher. Ich habe ihn schon während seiner Zeit in Berlin als großartigen Trainer wahrgenommen. Er hat große taktische Kenntnisse, seine Teams spielen mit sehr viel taktischer Disziplin. In den Interviews sieht man allerdings auch, dass er nicht unschwierig ist. Aber er kommt immer authentisch rüber. Ich beschäftige mich gerade mit Max Weber, der ja den Begriff Charisma geprägt hat. Vor allem Jürgen Klopp hat Charisma im Weberschen Sinn entwickelt. Klopp verkörpert alles, was das Ruhrgebiet im 21. Jahrhundert sein will. Auch Lucien Favre hat Charisma. Aber anders als Klopp. Er ist fast schon intellektuell, ein bisschen wissenschaftlich. Er hat eine klare Analyse und ist unabhängig in seinem Urteil. Selbst nach erfolgreichen Spielen kritisiert er. Das zeigt Größe. Einer der großen Charismatiker des deutschen Fußballs war natürlich Hennes Weisweiler, Borussias Meistertrainer. Und Jupp Heynckes ist ein gutes Beispiel, wie ein Trainer im Lauf der Zeit ein Charisma entwickelt hat.

Wie authentisch können öffentliche Menschen wie Fußballtrainer sein? Inwieweit sind die öffentlichen Trainer-Bilder konstruiert?

Weischenberg Man kennt natürlich kaum die Personen hinter den öffentlichen Bildern. Darum ist es für alle Trainer eine Gratwanderung: Einerseits wollen sie authentisch bleiben, andererseits aber auch dem Affen Zucker geben. Es ist ein Geben und Nehmen zwischen Vereinen, Akteuren und Medien. Es ist für alle eine Win-Win-Situation. Die Vermarktung des Fußballs ist ein Selbstläufer. Es ist ein Gesamtkunstwerk.

Wie ordnen Sie Borussia in diesem Gesamtkunstwerk ein?

Weischenberg Gladbach ist positiv besetzt. Früher wurde Borussia eher der Linken zugeordnet, Netzer galt als der Rebell am Ball. Das war sympathisch. Zudem galt Gladbach immer als Underdog im Konzert der Großen, der aber in der Lage ist, die Großen zu ärgern. Tradition und Namen spielen eine Rolle, auch weil viele wichtige Akteure der Vergangenheit, wie Netzer, nicht von der Bildfläche verschwunden sind. Die Fohlenelf ist nicht vergessen. Dazu kommt, dass der Verein für die Stadt eine große Rolle spielt. Es gibt nur wenige Städte, wo das so prägnant ist, in Dortmund noch, auch in Kaiserslautern. Mönchengladbach ist eine Fußballstadt. Und Borussia steht für die Stadt.

KARSTEN KELLERMANN SPRACH MIT SIEGFRIED WEISCHENBERG.

(RP)
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