Wechsel zum BVB? Das Gladbach-Denkmal kann Favre niemand mehr nehmen

Meinung | Mönchengladbach · Es scheint wahr zu werden: Lucien Favre als Trainer bei Borussia Dortmund. Die Fans der anderen, selbsternannten "einzigen" Borussia aus Mönchengladbach wehren sich größtenteils gegen die Bilder, die das in ihrem Kopf hervorruft.

 Lucien Favre macht die Welle mit den Gladbach-Fans, nachdem er den Verein auf Platz drei geführt hat.

Lucien Favre macht die Welle mit den Gladbach-Fans, nachdem er den Verein auf Platz drei geführt hat.

Foto: dpa, rwe tmk

Nichts gegen den OGC Nizza, aber bis zum 24. Mai 2016 war der französische Erstligist hierzulande ähnlich von Interesse wie Stade Rennes und der FC Toulouse, also gar nicht mal so sehr. Doch dann setzte ein Social-Media-Mitarbeiter an der Côte d'Azur diesen Tweet ab: "Lucien Favre est le nouvel entraîneur de l'@ogcnice." Das ließ sich auch ohne fließende Französisch-Kenntnisse verstehen.

Wie so viele Momente, die den Schweizer Trainer aus Saint-Barthélemy im Kanton Waadt betreffen, hat sich auch dieser ins Gedächtnis eingebrannt nach dem Motto "Wo warst du, als ..?". Ich saß also in einem Café im mazedonischen Skopje und hatte viel Zeit, über die viereinhalb Jahre zu sinnieren, die Favre in Mönchengladbach verbracht hat. Wer unter 30 ist, hat schließlich keine bessere Zeit mit Borussia erlebt.

1680 Tage waren es, am Tag nach seinem Rücktritt habe ich nachgezählt für eine Bilderstrecke, die die Ära am Niederrhein zusammenfasst. Das erste Bild ist gleichzeitig das erste, das es von Favre im Borussia-Umfeld gibt. Darauf steht der damals 53-Jährige mit dunkelgrauen Haaren, die sechs Monate vor seinem 60. Geburtstag mittlerweile ins Weiße tendieren, zwischen Max Eberl, dem er etwas umständlich zu seiner Rechten mit links die Hand schüttelt, und Rainer Bonhof, der links von Favre steht und die rechte Hand bekommt. Mit dem Überkreuz-Favre fing alles an. "Wenn du eine Möglichkeit hast, in Deutschland zu trainieren, musst du sie nehmen", das war der erste Satz, den er auf der Pressekonferenz sagte.

Nun deutet einiges darauf hin, dass Favre allen Grund hat, sich an den Satz zu erinnern. Es scheint zu Ende zu gehen mit Borussia Dortmund und Thomas Tuchel — und da der BVB ruft, müsste Favre "sie nehmen", wenn er konsequent ist, diese Möglichkeit. Zumal der zweitgrößte Verein Deutschlands ruft und einer der größten Europas, nicht wie einst im Februar 2011 das Schlusslicht der Bundesliga an der Schwelle zur 2. Bundesliga.

Mit 77 Punkten in 37 Spielen hat Favre den OGC Nizza auf den dritten Platz in Frankreich geführt, der AS Monaco und Paris Saint-Germain sind erst gegen Ende der Saison weggezogen. Was die Rechnung "Millionen pro Punkt" angeht, ist Favres Nizza jedoch unangefochtener Meister der Ligue 1. Im Sommer droht dem Klub, der im Vorjahr schon starker Vierter war, der nächste Aderlass. Auf dem Weg in die Champions League müsste Nizza zudem zwei Runden als ungesetztes Team überstehen. Man sähe Favre schon wieder im Büro seines Managers stehen, seinen Rücktritt anbietend. Dann lieber jetzt einen Schlussstrich ziehen.

Egal wo man im Gladbach-Kosmos nun nach Reaktionen auf diesen Deal sucht, der sich da anbahnt, überwiegen Kommentare wie dieser: "Horror." Oder etwas ausführlichere, die das große Ganze berücksichtigen: "Favre auf der BVB-Bank und der EffZeh europäisch. Ich glaube, ich setze kommende Saison mal aus." Oder dieser, noch emotionaler: "Mir wird schlecht, wenn ich nur dran denke, dass das mit Favre und den Zecken so kommen könnte. Das wäre mein ganz persönlicher Supergau." Die Gladbach-Fans sind sich weitgehend einig: Lieber kein Favre in der Bundesliga, solange es nicht am Niederrhein ist.

Aber nur weil er mit Nizza das nächste Märchen geschafft hat, hat Gladbachs nicht an Märchenhaftigkeit eingebüßt. Zumal Favre vor 2011 schon mit Hertha BSC äußerst erfolgreich war und dem FC Zürich in der Schweiz glanzvolle Zeiten beschert hatte. Es war ganz schön, ein Jahr lang die Artikel in "L'Équipe" aufzusaugen. Und viele Favre-Fans hätten wohl angefangen, Türkisch zu lernen, wenn es zum Beispiel Galatasaray statt Nizza geworden wäre. Aber Favre quasi vor der Haustür, das kann man sich nur wünschen.

Vor zwei Wochen spielten der Hamburger SV und der FSV Mainz 05 gegeneinander, es wurde das wohl schlimmste Spiel der Saison, fast jeder zweite Pass kam nicht an. Man würde in Situationen wie diesen gerne Favre anrufen, hoffen, dass er sich auf seine typische Art echauffiert über solch einen unkultivierten Stil, irgendwann thematisch bei der WM 1982, 1970 oder gar 1954 landen, ihn irgendwann einfach alleine dozieren lassen und lauschen.

So viele Worte hat Favre in Gladbach gar nicht hinterlassen. Sein "Es wird schwährr" liegt ganz vorne, dann kommt in der Rangliste wohl schon "Vergessen Sie Hrgota nicht". Aber er ist unter den Fußballtrainern der teure Rotwein, in seinem Fall Jahrgang 1957: Bis ins letzte Detail sind die Sehnsüchte, die er am Niederrhein immer noch auslöst, gar nicht zu erklären. Er ist eben Favre, und er hat vom 14. Februar 2011 bis 20. September 2015 diese sagenhafte Geschichte bei Borussia Mönchengladbach geschrieben.

Eine Geste hat Favre dort hinterlassen und im Gedächtnis aller, die den Verein verfolgen: sein unbedarftes Klatschen. So klatscht niemand und wenn doch, kann es eigentlich nur ein dumpfes Geräusch verursachen. Aber wenn Favre so vor der Kurve stand und klatschte, war eben alles gut bei Borussia. Von Bochum bis zum dritten Platz, die Erinnerung ist wie ein Pawlow'scher Reflex.

Und jetzt überwiegt die Neugier, ob er nächstes Jahr in Dortmund bei der anderen Borussia dumpf klatschen, die Welle machen, sich hochleben lassen würde, alles andere. Ihm wäre es zu wünschen, weil er eine ganz besondere Laufbahn krönen würde. Und: Er könnte sich in Gladbach die Verabschiedung abholen, die es nicht gegeben hat, weil er Hals über Kopf hinschmiss. Das haben ihm die meisten inzwischen ja auch verziehen. Hennes Weisweiler, Borussias größter Trainer, kam aus Köln, ging nach Barcelona, landete wieder in Köln und wurde Trainer der Jahrhundertelf. Bis der nächste gekürt wird, dauert es zwar noch 83 Jahre, aber Stand jetzt ist es Favre. Daran würde auch ein Wechsel nach Dortmund nichts ändern.

(jaso)
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