Günter Netzer zum 80. Legende der Lässigkeit
Mönchengladbach · Günter Netzer wurde im Trikot von Borussia Mönchengladbach zu Deutschlands erstem Fußballstar. Ein genialer Spieler, ein gesellschaftlicher Rebell, ein gewiefter Geschäftsmann. Fast schon ein Mythos. Nun wird er 80 Jahre alt.
Günter Netzer hat den Fußballfans viel gegeben. Sie staunten über seine Pässe, sie bewunderten seine Vorstöße aus dem Mittelfeld und seine Freistöße. Aber sein berühmtester Auftritt auf dem Spielfeld geschah in einem seiner kürzesten Einsätze. 1973 wechselte sich der Mönchengladbacher vor der Verlängerung des Pokalfinales gegen den 1. FC Köln selbst ein, indem er seinem Trainer Hennes Weisweiler im Vorbeigehen mitteilte: „Ich spiele dann jetzt.“ Er schoss das entscheidende Tor zum 2:1, und danach wechselte er zu Real Madrid.
Diese Szene unterstreicht den Mythos Netzer, sie beschreibt Eigenwilligkeit und große Klasse des Spielers. Netzer, der im späteren Leben ein bedeutender Manager, Rechtehändler und TV-Kritiker wurde, wird am Samstag (14. September) 80 Jahre alt.
„Sport? Ich habe nie Sport getrieben?“
Es hat ein bisschen gedauert. Aber in seinen 70ern konnte er endlich das Leben führen, das er als sein „Lieblingsleben“ bezeichnete: „das faule Leben“. Von der langen Abwesenheit dieses Lieblingslebens hat er in seiner Biografie bewusst kokett geschrieben. Ganz sicher in dem Wissen, dass den Fußballer Netzer niemand für ein Arbeitstier hielt.
Auf die Frage, ob er als Rentner Sport treibe, hat er geantwortet: „Sport? Ich habe nie Sport getrieben. Da fange ich doch jetzt nicht damit an.“ Und in Erinnerung an sein Leben als Fußballer hat er (ebenso kokett) kurz vor dem 80. Geburtstag in einem Sportschau-Podcast gesagt: „Ich habe die Konditionstrainer gehasst wie keinen anderen Menschen auf der Welt.“
Der erste richtige Fußballstar des Landes
Für ausgiebige Laufarbeit waren in Netzers Fußballkosmos andere zuständig, die Zulieferer für sein Genie. Seine Größe konnte und wollte ihm keiner bestreiten. Er war auf dem Fußballplatz der Mann für die besonderen Dinge. Wenn er mit wehendem blonden Haar aus dem Mittelfeld den Ball führte und mit seinen langen Pässen den Mitspielern Räume eröffnete, die sie nicht einmal geahnt hatten, dann verzückte er das Publikum. Sein Biograf Helmut Böttiger schrieb: „Seine Pässe atmeten den Geist der Utopie.“
Netzer war der erste richtige Fußballstar in diesem Land. Einer, der in den bunten Illustrierten ebenso vorkam wie in den Sportzeitschriften. Sein Spiel trieb sogar die Feindenker in den Kulturredaktionen zu ausgiebigen Betrachtungen. Mit seinem Hang zu modischer Kleidung, zu schnellen Autos und einem vergleichsweise extravaganten Auftreten schien er den Zeitgeist der späten 1960er und frühen 1970er Jahre und den vermeintlichen Arbeitersport Fußball miteinander zu versöhnen. Unerhört.
„Er hat dafür gesorgt, dass der Fußball ein Teil der Gesellschaft wurde“, stellte sein ehemaliger Nationalmannschaftskollege Paul Breitner fest, der an seiner Seite in der vielleicht besten deutschen Mannschaft stand, die 1972 Europameister wurde. Er hat den Sport durch sein Spiel verändert, und er hat den Blick auf den Sport verändert. Deshalb nannte ihn Böttiger „Rebell am Ball“.
Das aufregende Konterspiel der Mönchengladbacher Borussia, die sich in den 1970er Jahren die Meistertitel mit den Bayern teilte, hat Netzer mit seiner Ahnung für den Raum geprägt. Rebellisch fand er das nicht. Jugendlich vielleicht, unbändig wie die Fohlen, nach denen seine Mannschaft benannt wurde. Er war der Erfinder dieses Spiels. „Drei-, viermal im Jahr haben wir Fußball gespielt, wie es ihn auf der Welt kein zweites Mal gab“, schrieb er in seiner Autobiographie. Der gab er einen Titel, der ihm besser gefällt als der des Rebellen: „Aus der Tiefe des Raumes.“ Dort verortete ihn das Feuilleton, und dort schuf Netzer seine Rolle im Weltfußball.
Gladbach in den 70ern mit mehr Meisterschaften als Bayern
Er gab dem Spiel, das in seiner Begrenzung durchs Spielfeld ja nur Länge und Breite hat, eine neue Dimension.
Netzers Rolle als Objekt kulturhistorischer Betrachtung passt zu seinem schon früh sehr klaren Blick. Er wuchs in die Rolle der natürlichen Führungsfigur, auch wenn er von sich sagte: „Ich bin immer ein schüchterner, scheuer Mensch gewesen.“ Es ist ihm gelungen, das zu überspielen. Immer.
Dass seine Gladbacher in den 1970ern zwar mehr Meisterschaften als die Münchner gewannen (vor seinem Wechsel zu Real feierte Netzer zwei von fünf mit), in den großen Spielen aber oft scheiterten, veranlasste den Biografen Böttiger zu der Feststellung: „Die Magie der Gladbacher rührt nicht vom Erfolg, sondern vom Scheitern.“ Das würde Netzer bestreiten. Und er würde auch denen widersprechen, die ihn für einen (zu) ernsten, grüblerischen Menschen halten. „Das ist nicht mein Naturell“, hätte er gesagt.
Netzer lebt sein Lieblingsleben
Sein Naturell enthüllte sich, wenn er über den aus gegenseitiger Verehrung entstandenen Dauerzwist mit Weisweiler sprach. Wenn er sich daran erinnerte, wie der Trainer darauf reagierte, dass Netzer auf dem Höhepunkt seines Wirkens in Mönchengladbach die Diskothek „Lovers Lane“ betrieb. „Das ist das Ende“, stöhnte Weisweiler. Und während sich Netzer das Gesicht des verzweifelten Fußballlehrers vorstellte, musste er lachen. Das Lachen kam plötzlich, stoßweise, von tief innen, das ganze Gesicht arbeitete mit, er zeigte große Zähne, und der Körper bebte vor Vergnügen. Es gluckerte richtig. Darin steckte viel vom echten Netzer.
Man muss ihn sich heute als sehr entspannten Herrn vorstellen. „Mir fehlt nichts“, sagte er, „und Langeweile kommt nicht auf. Ich habe alle meine Leben aufgegeben, bis auf das reale.“ Es ist das schöne, das faule Leben, von dem er immer geträumt hatte. Das Lieblingsleben.