Nicht nur der Spieler ist gefordert Wie Neuhaus bei Borussia wieder aufblühen könnte
Analyse | Mönchengladbach · Hinter Florian Neuhaus liegt die komplizierteste Halbserie seiner Borussia-Zeit. Dass er wieder wichtig wird für die Mannschaft, sollte auch Trainer Adi Hütter ein Anliegen sein. Neuhaus deutete bereits an, dass ein Positions-Revival funktionieren und einen Kollegen unter Druck setzen könnte.
2020 hat Florian Neuhaus den „Pass des Jahres“ gespielt in der Champions League bei Inter Mailand. 2021 hätte er sich, so es diese Wahl denn gegeben hätte, höchstwahrscheinlich mit der Auszeichnung „Fehlpass des Jahres“ arrangieren müssen. Allein in der abgelaufenen Bundesliga-Hinrunde sind bei Borussia 1584 Bälle nicht angekommen, aber dieser eine in der 77. Minute des Derbys beim 1. FC Köln am 27. November markierte das Ende der stabilen Phase unter Adi Hütter und leitete Gladbachs Absturz bis Weihnachten ein.
Auf den Treffer zum 1:2 folgten zwei weitere Gegentore in Köln, dann das 0:6 gegen den SC Freiburg, das 1:4 bei RB Leipzig, das 2:3 gegen Eintracht Frankfurt und das 1:1 bei der TSG Hoffenheim. Wie wäre die Adventszeit wohl verlaufen, wenn Neuhaus‘ Pass bei Matthias Ginter angekommen wäre, er sich vor dem eigenen Strafraum direkt für Patrick Herrmann entschieden hätte oder einfach schräg nach vorne gedribbelt wäre?
Es wird Neuhaus ein schwacher Trost sein: Aber der Fehlpass von Köln hat seine exponierte Stellung in der Rangliste der Missgeschicke schnell eingebüßt. „Der Pass war tatsächlich scheiße“, sagte Neuhaus im Borussia-Podcast vor dem Heimspiel gegen Freiburg. Kurz darauf war nur noch von einer Gegentor-Flut und dem Abrutschen in den Abstiegskampf die Rede. Neuhaus durfte lediglich einmal ran seit dem Derby, doch sein Startelf-Einsatz bei der 2:3-Niederlage gegen Eintracht Frankfurt ließ erahnen, wie der 24-Jährige sein erstes großes Karrieretief im neuen Jahr hinter sich lassen könnte.
Neuhaus ersetzte in Hütters Offensiv-Dreieck den gelbgesperrten Lars Stindl und traf nach sechs Minuten technisch sehenswert von der Strafraumgrenze. Dass er den Nationalspieler nicht auf der Sechserposition sieht, daraus hat der Trainer schon bald nach Saisonbeginn kein großes Geheimnis mehr gemacht. Und Hütters bisherige Gladbach-Zeit zeichnet die Konsequenz aus, dass er Aufstellungen vermeidet, von denen er nichts hält. Doch es kann ihm natürlich auch nicht recht sein, einen der wertvollsten und talentiertesten Spieler des Kaders zu vergraulen. Sein Potenzial zur Entfaltung zu bringen, ist auch Hütters Aufgabe. Zumal Neuhaus‘ Vertrag noch bis 2024 läuft, er ist einer der wenigen Stars in Gladbach, über deren Zukunft nicht spätestens im nächsten Sommer gesprochen werden muss.

Das sind Borussias beste Joker
Es klappte bei Neuhaus wenig in der Hinrunde, immerhin gesund blieb er nach der einsatzlosen EM-Teilnahme. Trotzdem findet er sich in einigen relevanten Bereichen weit vorne wieder. Drei Tore in 709 Minuten sind nach Jonas Hofmann die zweitmeisten pro Spiel und die zweitmeisten überhaupt. Neuhaus hat die Zahl seiner Abschlüsse so gesteigert, dass er Stindl (2,09) mit 2,16 Versuchen pro 90 Minuten sogar leicht übertrifft. Die Schussgenauigkeit ist gut wie nie, Neuhaus steht bei seinen Abschlüssen im Schnitt jedoch 2,5 Meter weiter vom Tor weg als der Kapitän. Der traf in der Liga überhaupt nur beim 3:1-Sieg gegen Arminia Bielefeld Mitte September und verschoss zwei Elfmeter. Aus fünf Expected Goals (xG) resultierten somit zwei Treffer, bei Neuhaus drei aus 1,8 xG.
Als Zehner zu alter Stärke? Zum Sechser wurde Neuhaus ja überhaupt erst dauerhaft, nachdem Denis Zakaria sich im März 2020 schwer verletzt hatte. An guten Tagen liefert er auch vor der Abwehr mit der Pressing-Resistenz eines Luka Modric ab, doch die Risikofreude birgt Gefahren. „Bei Flo merkt man aktuell einfach, dass er kein Selbstvertrauen hat. Er hat diese leicht aufreizende, fast arrogante Spielweise, den Gegner immer zu locken bis auf die letzte Sekunde“, erklärte sein Kumpel Christoph Kramer mal. „Dann spielt er ab und macht viel im richtigen Moment richtig. Wenn dir das Selbstvertrauen fehlt, hast du so einen zittrigen Fuß und machst Dinge, die du sonst nie im Leben machst.“
So ließ sich auch der Fauxpas im Derby erklären. Drei Wochen zuvor hatte Neuhaus mit einem TV-Interview nach dem 1:1 beim FSV Mainz 05 für einen kleinen Eklat gesorgt. „Es ist nicht ganz einfach für mich, ich habe mir über drei Jahre hier viel aufgebaut“, sagte er nach seinem längeren Joker-Einsatz inklusive Tor. „Ich habe selber gemerkt, wie schnell es im Profifußball gehen kann. Ich hätte mir vielleicht auch ein Stück weit mehr Rückendeckung vom Verein gewünscht. Aber das ist im Profifußball vielleicht so.“ Manch einer wertete die Aussage als Affront, andere sahen in ihr den legitimen Befreiungsschlag eines Spielers, um den zuvor ein Großteil der Negativschlagzeilen gekreist war. Denn mit der Hereinnahme von Manu Koné für Neuhaus hatte Borussias Aufschwung eingesetzt. Trainer Hütter und Manager Max Eberl baten Neuhaus zum klärenden Gespräch.

Borussias Scorerliste 2021/22
Nun liegt mit Beginn der Rückrunden-Vorbereitung insgesamt einiges im Argen. Aber Neuhaus wieder in die Spur zu bekommen, wäre nicht nur für den Spieler selbst ein lohnenswertes Projekt, sondern auch für Hütter. Der könnte vor allem bei einem Weggang von Zakaria im Winter darüber nachdenken, auf einen einzelnen Sechser umzustellen und von einem 3-4-2-1 auf ein 3-1-4-2. Darin könnten Neuhaus und Hofmann vor Koné die Doppel-Acht bzw. Doppel-Zehn aus der Saison 2018/19 wiederbeleben. Ganz vorne wäre Platz für zwei Stürmer.
Der Druck auf Stindl, dem seit längerer Zeit die Direktheit und Selbstverständlichkeit in seinem Spiel abgehen, würde größer. Der 33-Jährige kam 2015 selbst ja erst in Gladbach an, als André Schubert in ihm einen Max-Kruse-Nachfolger sah und anders als Lucien Favre zuvor keinen Christoph-Kramer-Nachfolger mehr. Auch ein Nationalmannschafts-Kollege liefert ein Beispiel, wie die Mutation vom Sechser zum torjagenden Zehner gelingen kann: Ilkay Gündogan bei Manchester City. „Ich habe oft gesagt, dass er als Stürmer spielen kann, wie eine falsche Neun, und die Leute haben gelacht“, sagte Pep Guardiola Anfang 2021. „Jetzt spielt er in der Nähe des Stürmers und er hat ein unglaubliches Gespür für die Bewegungen zum Strafraum.“
Eine entsprechende Bundesliga-Statistik untermauert Neuhaus-Potenzial in dem Bereich: Er wagte in der Hinrunde die viertmeisten Dribblings im gegnerischen Sechzehner. Dort hält sich auch das Risiko eines fatalen Fehlpasses in Grenzen.