Borussia-Fan im Fußball-Entzug „Dann würden wir uns auf den Weg zum Stadion machen“

Mönchengladbach · Ingo Müller-Andersohn fährt zu fast jedem Gladbach-Spiel. Ihm fehlt nun etwas wegen Corona. Besonders am Wochenende, als das Spiel bei den Bayern gewesen wäre, spürte er das. Daran ändert auch seine Idee mit den Doppelgängern nichts.

 Ingo Müllers Fan-Doppelgänger war der erste seiner Art im Borussia-Park. Rechts der Fan-Beauftragte Thomas „Tower“ Weinmann.

Ingo Müllers Fan-Doppelgänger war der erste seiner Art im Borussia-Park. Rechts der Fan-Beauftragte Thomas „Tower“ Weinmann.

Foto: Ja/Fanprojekt

Der Fußball ist immer da. Zumindest im Kopf von Ingo Müller-Andersohn. So war es auch am Samstag. Er dachte daran, dass er eigentlich in München wäre, wo die Borussen beim FC Bayern gespielt hätten an diesem 25. April. Er schaute immer wieder auf die Uhr und überlegte sich zum Beispiel: „Jetzt wären wir am Viktualienmarkt, würden in der Sonne sitzen und ein Bier schlürfen.“ Oder: „Jetzt wären wir auf dem Weg zum Stadion.“ Alle paar Minuten rief er seinen Kumpel an und gab fiktive Wasserstandsmeldungen durch. Man wäre jetzt hier, wäre jetzt da, würde den und den treffen.

„Wenn du als Fan Allesfahrer bist, geht es nicht nur um das Spiel und das Ergebnis, es geht auch um das Drumherum, die Folklore. Und die vermisse ich ebenso wie die Jungs und den Fußball“, sagt Müller-Andersohn, der in den vergangen „fünf, sechs Jahren“ kaum ein Borussia-Spiel verpasst hat.

Und jetzt? Fußball gibt es nicht, Corona verhindert das. Und somit gibt es auch keine Fußball-Reisen. Vor München wäre es nach Freiburg gegangen zum letzten Borussen-Spiel im alten Dreisamstadion. Nächste Saison spielt der Sport-Club aus dem Breisgau in einer neuen Arena. „Es war vielleicht die letzte Chance, dort im alten Stadion ein Gladbach-Spiel zu sehen“, sagt Müller-Andersohn. Denn wenn Borussia das Spiel in Freiburg nachholt, dann als Geisterspiel ohne Fans.

Borussia Mönchengladbach: Fan-Doppelgänger im Borussia-Park aufgestellt
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Fan-Doppelgänger im Borussia-Park aufgestellt

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Foto: dpa/Marius Becker

Wie fühlen sich die Wochenenden ohne Borussia und Fußball an? „Leer. Es ist wie ein Entzug.“ Der Kopf und der Körper sind ganz auf Fußball geeicht, der Wochenplan wird danach ausgerichtet. „Wenn Spiele in München sind, bin ich schon am Abend vorher da, übernachte bei einem Kumpel, wir haben unsere Stammkneipen, in die wir dann gehen und Freunde treffen“, sagt er. Es ist nicht so, dass alle Allesfahrer immer zusammen sind, „es sind Ultras, Kutten, Normalos, jeder ist für sich, aber es ist doch auf eine Art eine eingeschworene Gemeinschaft.“

Den einen oder anderen von „den Jungs“ hat Müller-Andersohn zuletzt im Borussia-Park gesehen – als Pappfigur. Die Fans können Dummys mit ihrem Foto bestücken und bekommen dann einen Platz in der Gladbacher Arena als Ersatzkulisse für den Fall, dass es die geplanten Geisterspiele gibt. Mehr als 10.000 dieser Fan-Doppelgänger wurden schon bestellt, auch Auswärtsfans haben die 19 Euro investiert, um dabei zu sein, Dortmunder, Frankfurter, Kölner. Sogar Michael Cuisance, der Ex-Borusse, der jetzt beim FC Bayern spielt, steht unter den Fan-Figuren auf der Gäste-Tribüne.

Müller-Andersohns Doppelgänger war der erste, der installiert wurde. Er hatte mit seiner Frau die Idee zu der Aktion, die längst weltweite Aufmerksamkeit hat: Das japanische Fernsehen hat darüber berichtet, ebenso Zeitungen in den USA. Stundenlang stehen Müller-Andersohn und Mitarbeiter des Fanprojekts an den Wochenenden auf den Rängen und befestigen neue Figuren. Auch die 2018 verstorbene gute Seele der Gladbach-Fans, Waltraud „Wally“ Hamraths, ist dabei.

„Wenn ich durch die Reihen der Pappfiguren gehe und die von einem Freund sehe, werde ich mega-wehmütig“, gesteht Müller-Andersohn. Die letzte Auswärtstour mit Borussia war die am 29. Februar nach Augsburg (3:2). Am 7. März war noch das Spiel daheim gegen Borussia Dortmund, das 1:2. Dann war Schluss mit dem Fußball vor Zuschauern. Das Derby gegen Köln war das erste Geisterspiel der Bundesliga-Geschichte. Wenn es weitergeht mit der Liga, dann nur so: ohne Fans.

„Wenn wir am Wochenende die Pappfiguren aufbauen, ist es eine Art Kompensationsarbeit, man schwelgt in Erinnerungen an gemeinsame Fahrten“, gesteht Müller-Andersohn. Die Fan-Doppelgänger sind für ihn aber auch ein Symbol dafür, dass Fußball ohne Fans nicht funktioniert. „Man merkt allein im leeren Stadion, dass die Akustik eine andere ist“, sagt Müller-Andersohn.

Am 11. März beim Derby spielten die Borussen nur vor Beton. „Jetzt haben die Jungs beim Training im Stadion oder bei den eventuellen Spielen das Gefühl: Die Fans sind bei uns. Immerhin“, sagt Müller. „Es ist eine schöne Aktion, die dem leeren Stadion ein wenig Leben einhaucht“, sagte Borussias Defensivmann Tony Jantschke zuletzt im Interview mit unserer Redaktion.

Ingo Müller-Andersohn weiß, dass die Geisterspiele vielleicht der einzige Weg sind, dass irgendwann die Normalität mit Fans in den Stadien wiederkommt, weil durch die Geisterspiele die Vereine wirtschaftlich überleben können. Das ist der Zwiespalt, den viele Fans haben. „Ich sehe die Zwänge, aber ich lehne Geisterspiele grundsätzlich ab. Der Fußball ohne Fans ist grausam“, sagt er. Nicht nur, weil er als Allesfahrer auf einen wichtigen Faktor in seinem Leben verzichten muss.

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