Borussias Co-Trainer Bremser im Interview „Wertigkeit von Standards ist extrem gestiegen“

Mönchengladbach · Bei der WM ist fast jedes zweite Tor nach einem Standard gefallen. Borussias Co-Trainer Dirk Bremser spricht über die wichtigsten Bestandteile.

 Sagt, wo es langgeht bei Borussias Standards: Dirk Bremser, der langjährige Assistent von Dieter Hecking. Auch er kam im Januar 2017.

Sagt, wo es langgeht bei Borussias Standards: Dirk Bremser, der langjährige Assistent von Dieter Hecking. Auch er kam im Januar 2017.

Foto: Dirk Päffgen

Herr Bremser, für einen Standard-Experten wie Sie müsste die Weltmeisterschaft in Russland ein Fest gewesen sein.

Dirk Bremser Die Wertigkeit von Standards ist extrem gestiegen. Bei der WM 2014 resultierten 30 Prozent der Tore aus Standards, nun waren es 44 Prozent. Das war der vorläufige Höhepunkt. Wenn man die Quote sieht, müsste man nur noch Standards trainieren (grinst).

Gibt es Freistöße wie den von Ronaldo bei der WM gegen Spanien in der Video-Analyse für die Borussen auch mal zu sehen?

Bremser Warum nicht? Das ist doch ein wunderbares Beispiel dafür, dass man die Dinge nicht verkomplizieren soll. Einfach ist oft gut, das müssen die Jungs auch wissen. Klar, man kann bei zentralen Freistößen eine Menge machen: überlaufen, den Ball über die Mauer lupfen oder stolpern wie Thomas Müller mal, all das trägt zum Überraschungseffekt bei. Aber wir haben auch so viele gute direkte Freistoßschützen. Tatsächlich fallen die meisten Freistoß-Tore aus der Position nach direkten Schüssen. Wir haben da sicherlich ein bisschen Nachholbedarf.

Borussia hatte in der vergangenen Saison nach dem Spiel gegen den FC Augsburg am 19. Spieltag 40 Prozent Standard-Tore erzielt, danach ging die Quote auf 18 Prozent runter. Was war los?

Bremser Die Statistiken lügen nicht. Wir haben es in der Rückrunde nicht mehr so gut gemacht wie in der Vorrunde. Oder genauer gesagt: Nicht mehr mit so viel Ertrag. Auf den schaut man. Für mich gibt es aber weitere Faktoren: Wie oft kommt man zum Abschluss? Oder wie oft kommt der Ball so durch, wie es geplant war? Wie sind die Laufwege, kann ich Gegenspieler blocken? Auch Pech und Glück spielen eine Rolle. Raffael hat zum Beispiel an die Latte geschossen, ein anderes Mal hält der Torwart super. Aber das ist nun mal so: Manchmal wird ein schlecht geschossener Freistoß abgefälscht und kullert ins Tor, manchmal geht ein klasse Schuss eben an die Latte.

Bei Elfmetern liegt es vor allem am Schützen.

Bremser Unsere Quote in der vergangenen Saison war vor allem in der ersten Halbserie gut, da haben wir keinen Elfmeter vergeben. Aber das Thema ist ein anderes: Es geht ja darum, überhaupt Elfmeter zu bekommen. Und da muss ich sagen, dass wir in der zweiten Saisonhälfte nicht gut weggekommen sind durch den Videobeweis. Wir hätten drei bis vier Elfmeter mehr haben müssen. Ob die dann auch verwandelt worden wären, steht auf einem anderen Blatt, aber die Bilanz wäre vermutlich anders gewesen. Grundsätzlich muss es aber das Ziel sein, in die Elfmeter-Situationen reinzukommen. Das geht nur, wenn man Druck im Strafraum macht. Wir wollen auch Standards um den Strafraum herum bekommen, da ist es natürlich gut, wenn man Spieler wie Ibo Traoré hat, der mit seinem Spiel immer wieder Fouls in Strafraumnähe ziehen kann.

Was ja in der neuen Saison und mit dem neuen Spielsystem verstärkt passieren soll. Dann kommt es wieder auf die Verwertung an.

Bremser Richtig. Aber es geht nicht nur um die Elfmeter. Es geht generell darum, das Thema immer konzentriert anzugehen. Jeder Standard, auch der Abstoß, bedeutet erst einmal Ballbesitz. Und der Gegner, das hat ja auch Englands Trainer Gareth Southgate gesagt, kann nichts machen, außer zu reagieren. Darum muss man auch die Verteidigung von Standards üben. Ein Abwehrkopfball ist ganz anders als einer in der Offensive.

Durch den neuen Dänen Andreas Poulsen ist der lange Einwurf als Standard-Element dazu gekommen.

Bremser Auch Michael Lang, der nun leider verletzt ist, hat einen weiten Einwurf. Wir haben das ja auch schon genutzt. Beim 2:1 gegen den FC Augsburg gingen beiden Toren Einwürfe voraus. Aber dass eine Einwurf-Flanke direkt reingeköpft wird, ist ja sehr selten. Darum geht es bei den weiten Einwürfen vor allem um die Positionierung im und um den Strafraum, darum, dass man viele Leute da hat. Das allein kann den Gegner verwirren. Wenn plötzlich bei einem Einwurf die Verteidiger in den Strafraum kommen wie bei einer Ecke, sorgt das für Unruhe, der Gegner ist in Alarmbereitschaft, kann aber nur reagieren. Beim 1:1 gegen Augsburg hat Tobi Strobl in der Situation den Ball verlängert, dann kam er zu ihm zurück und er schoss das Tor. Das zeigt, dass es um zweite und dritte Bälle geht – man muss wach bleiben. Aber das gilt für alle Standards. Sonst kassiert man leicht einen Konter nach einer Ecke oder einem eigenen Einwurf. Nehmen wir wieder die Engländer bei der WM: Sie haben das mit einem enormen Risiko gespielt, sie wurden dafür belohnt.

Entscheidend ist aber die Qualität bei der Ausführung.

Bremser Natürlich. Leider haben wir gegen Augsburg und Ingolstadt Beispiele gesehen, die ärgerlich waren, weil bei Freistößen von außen der Ballbesitz einfach verschenkt wurde, weil sie zu flach und zu wenig scharf gespielt wurden. Das sollte nicht passieren, zumal, wenn wir es vorher extra einstudiert haben. Das gilt für jede Art von Standard. Wenn ich einen Abstoß dem Gegner quasi zuspiele, ist die Chance zum geordneten Spielaufbau weg, so ist es auch bei einem Einwurf. Da ärgere ich mich maßlos, wenn der Ball zwei Sekunden später weg ist. Wir arbeiten daran, wieder effektiver zu werden bei Standards. Grundsätzlich wir müssen wir uns auch mehr Standards erarbeiten: Wir hatten Spiele mit nur einer Ecke oder wochenlang keinen zentralen Freistoß.

Worauf kommt es bei der Ausführung an?

Bremser Verlässlichkeit, Vertrauen und Verantwortung sind die entscheidenden Faktoren. Wir vertrauen den Schützen, sie übernehmen bei jedem Standard Verantwortung, etwas daraus zu machen, und das Ergebnis hängt letztlich von der Verlässlichkeit der Ausführung ab. Natürlich, wenn so ein Ball vor 50.000 Menschen nicht kommt, sagt jeder: „Der macht doch den ganzen Tag nichts anderes, wie kann das sein?“ Wie gesagt: Es geht um Verlässlichkeit, um Kreativität. Siehe Christoph Kramer gegen Wolfsburg.

Er hat den einzigen direkten Freistoßtreffer seit Ende 2015 erzielt.

Bremser Das war klasse, handlungsschnell und kreativ. Trotzdem kann es auch daneben gehen. Wichtig ist daher auch, dass die Räume richtig besetzt sind. Dann kann man auch aus einem Eckball oder Freistoß, der nicht optimal getreten wurde, etwas machen. Oder bei einem gegnerischen Standard besser verteidigen.

Gehört zur Vorbereitung der Standards die Arbeit am Kopfball-Pendel, wenn es um die Verwertung der Bälle geht?

Bremser Auch das. Allerdings sollte das schon im Jugendbereich passieren, damit die jungen Spieler richtig geschult werden im Kopfballspiel, defensiv wie offensiv. Ob nun am Kopfball-Pendel oder in anderen Übungsformen. Es geht um das richtige Timing, mit dem sich viele junge Spieler schwer tun. Wann laufe ich los, wann springe ich ab, wie komme ich hinter den Ball? Wir haben in Jannik Vestergaard sicherlich einen Vorteil verloren, weil er mit seiner Länge viel machen konnte und starke Angriffskopfbälle hatte. Aber wir haben trotzdem sehr gute Kopfballspieler. Tony Jantschke hat zum Beispiel einen herausragenden Defensivkopfball. Bei eigenen Ecken sind Matthias Ginter, Nico Elvedi oder Tobi Strobl Abnehmer, Denis Zakaria muss noch lernen, seine Größe optimal einzusetzen.

Der Paraguayer Julio Villalba ist nur 1,74 Meter groß, aber ein sehr guter Kopfballspieler.

Bremser Er ist überragend, er hat einen Kopfball wie ein Schuss. Die Sprungkraft hat er beim Fußball-Tennis in seiner Heimat gelernt. Er hat eine Wahnsinnstechnik. Als die anderen das zum ersten Mal gesehen haben, haben sie gestaunt. Fußball-Tennis ist übrigens auch eine gute Schule, wenn es ums Timing und um Koordination geht. Die Leute denken immer, es geht um Spaß und Erholung. Aber wenn man es richtig macht, ist das eine klasse Trainingseinheit, gerade für das Kopfballtraining. Kopfballspiel gehört wie Zweikämpfe unbedingt dazu. Ich sage es nochmal: Das sollte auch im Jugendbereich eine größere Rolle spielen.

Ecken vom Tor weg oder vor das Tor – haben Sie da Vorlieben?

Bremser Es geht ja nicht um meine Vorlieben, sondern um die der Kopfballspieler. Letztlich ist es doch so: Wenn die Bälle gut kommen, ob weg vom Tor oder zum Tor, sind sie immer gefährlich. Vom Tor weg kann man dem Ball aber mehr Druck geben als Abnehmer, darum sind sie den meisten Spielern so lieber. Seitliche Freistöße sind dagegen gefährlicher, wenn sie zum Tor hin getreten werden – dann kann unter Umständen auch mal einer direkt ins Tor gehen. Wenn diese Freistöße scharf kommen, reicht es, sie leicht zu touchieren, um sie sehr gefährlich werden zu lassen. Man darf nicht vergessen, dass der Stürmer im Aktionsvorteil ist.

Das gilt auch für die Verteidigung von Standards. Zum Beispiel wenn am dritten Spieltag der FC Schalke mit Naldo und Salif Sané kommt.

Bremser Schalke hat viele Standard-Tore erzielt in der vergangenen Saison, und natürlich ist klar, dass die beiden im Vorteil sind mit ihrer Größe. Was kann man dagegen tun? Im Mann-gegen-Mann wenig, aber man kann zwei, drei Spieler vorn lassen und damit Verteidiger binden, weil der Gegner sonst Angst vor einem Konter haben muss.

Und bei eigenen Standards muss man sich etwas einfallen lassen. Zum Beispiel die Bushaltestellen-Taktik der Engländer im Strafraum: alle in einer Reihe.

Bremser Da werden Sie bei uns unterschiedliche Ansätze sehen, man muss flexibel sein, je nach Gegner. Es ist immer ein Abwägen von Chance und Risiko. Aber ich kann Ihnen versichern: Wir denken uns etwas dabei. Viel kommt dann auf den Schützen an: Wie spielt er die Bälle, wie erkennt er die Situation? Er muss erkennen, wie der Gegner versucht, unsere Standards zu verteidigen. Jeder Freistoß ist viel Kleinarbeit in der Vorbereitung und viel Konzentration bei der Ausführung. Es lohnt sich aber, das zu investieren. Das hat die WM nochmal deutlich unterstrichen.

Karsten Kellermann und Jannik Sorgatz führten das Gespräch.

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