Borussia Mönchengladbach Viereinhalb Sternstunden und bewegte Visitenkarten

Manchester · Sportlich ist Borussias erste Champions-League-Saison mit einer Enttäuschung zu Ende gegangen. Doch nach dem Abschied aus der Königsklasse überwiegt der Eindruck, dass Verein und Fans die Premiere zu einem vollen Erfolg gemacht haben.

Manchester City - Borussia Mönchengladbach: Einzelkritik
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ManCity - Borussia: Einzelkritik

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1. Schubert verliert nur gegen City Es gibt zwei Indizien dafür, dass Borussia Mönchengladbach sich wieder auf der ganz großen Bühne blicken lassen darf. Sie hat zum einen sportlich in viereinhalb der sechs Spiele so gut mitgehalten, dass in der Halbzeit in Manchester im Gästeblock darüber diskutiert wurde, ob man sich am Ende nicht sogar über das verpasste Weiterkommen (als Zweiter) ärgern müsse. Nimmt man nämlich diese andere Borussia, die im September in Sevilla unterging, und die zweite Hälfte in Manchester heraus, stellt sich die Lage folgendermaßen dar:

Die ersten beiden Plätze in der maßgeblichen Tabelle der Gruppe D gehen natürlich völlig in Ordnung. Dass Sevilla aber in der Europa League weitermachen darf, ist schlichtweg ungerecht.

2. Erinnerungen zum Ausdrucken Zum anderen wären da die Auftritte der Gladbacher Fans, die mit den Choreos im Borussia-Park sowie ihrer Lautstärke in Turin und Manchester europäische Maßstäbe gesetzt haben, und das auch noch bemerkenswert friedlich. Visitenkarten sind irgendwie uncool, aber Borussias Anhänger sollten sich welche drucken lassen. Vielleicht eine Bewegtbild-Visitenkarte mit diesem Video vom Dienstag:

3. Undiplomatisch laut Das Lied "Steht auf, wenn ihr Borussen seid" ist das inoffizielle Instrument, um die Zahl der mitgereisten Fans zu bestimmen. Die 3000 Borussen im Gästeblock standen ohnehin 90 Minuten lang, die geschätzt noch einmal 1500 bis 2000 in neutralen Bereichen interessierten sich spätestens dann nicht mehr für die Bitten der Engländer, sich auch wirklich so neutral wie die Schweizer Diplomatie zu verhalten.

4. Lieber Bochum - Braunschweig Die City-Fans waren 80 Minuten lang so still, dass die Borussia-Fans selbst dann noch einen Punktsieg landeten, als das Spiel gekippt war. "You only sing when you're winning!", stimmten sie in Richtung der Gastgeber an, also: "Ihr singt nur, wenn ihr gewinnt!" Wie tot die englische Fankultur ist, durften einige Gladbacher bereits am Montagabend im Stadion des FC Everton begutachten, der in der Premier League 1:1 gegen Crystal Palace spielte. Atmosphärisch hat jedes deutsche Zweitligaduell der Güteklasse Bochum gegen Braunschweig mehr zu bieten. Engländer, die Spiele wie Borussias 3:1 gegen die Bayern live erleben, würden das Stadion vermutlich gar nicht mehr verlassen wollen.

5. Push-Meldung in der Coaching Zone Dass der Abend in Manchester sportlich in eine fatale Richtung schlitterte, bekamen zunächst nicht viele Leute mit. Nur langsam verbreiteten sich von unten nach oben, von oben nach unten die schlechten Nachrichten aus Spanien, nachdem Sevilla gegen Turin in Führung gegangen war. In der 67. Minute stand Co-Trainer Frank Geideck von der Bank auf, wanderte durch die riesige Coaching Zone zu André Schubert und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Ab diesem Zeitpunkt war klar: bei einem Gegentor ist Gladbach raus.

6. Verstummt Es könnte sich um einen Mythos handeln, aber eine "Intensiv-Recherche" frei nach Alfred Draxler bestätigt, dass auf dem Bökelberg im Mai 2003 gegen Hansa Rostock der sogenannte Wechselgesang erfunden wurde. "Vau-Eff-Ell!" kann man nicht nur zwischen Nordkurve und Ostgerade hin- und herschmettern wie einen Tennisball. Im Borussia-Park funktioniert es zwischen Norden und Süden, bei den beengten Verhältnissen in fremden Stadien zwangsläufig zwischen Ober- und Unterrang. Am Dienstag schrien die Gladbach-Fans in der 80. Minute gerade so laut, dass sich das wechselseitige "Vau-Eff-Ell!" regelrecht überschlug. Es wurde jäh unterbrochen — durch Raheem Sterlings Tor zum 2:2.

7. Auf dem Zahnfleisch Granit Xhaka gestikulierte gleich wild in Richtung Schubert, der Kapitän wollte eine Ansage, wie es in Sevilla steht und schien um die Erlaubnis zu bitten, alles nach vorne zu werfen. Dass das nur noch selten in den gegnerischen Strafraum führte und City bis zum Abpfiff auf 4:2 erhöhte, ist zu verkraften. Nachdem Fabian Johnson auch noch angeschlagen den Platz hatte verlassen müssen (passend zu seiner sagenhaften Bilanz, dass es da noch 1:2 stand) und von der Bank keine wirklichen Impulse mehr kamen, verdeutlichte die schwierige personelle Lage. Auch einen zuverlässigen Stabilisator konnte Schubert nicht bringen. Für einen Marvin Schulz ist diese Rolle noch zu groß. In diesen sportlich entscheidendsten Minuten seit Favres Rücktritt, war zum ersten Mal zu spüren, wie sehr die Borussia auf dem Zahnfleisch geht.

8. Indirekte Komplimente Beide Halbzeiten verliefen nahezu spiegelverkehrt. City spielte vor der Pause 199 Pässe, danach 360. Bei Gladbach waren es 390 und 176. Besonders die schwache Passquote der Borussia in den zweiten 45 Minuten, von nur noch 68 Prozent, brach ihr das Genick, weil es so fast gar keine Entlastung gab. Die Hälfte des Geschehens spielte sich im Drittel vor Yann Sommers Tor ab. Dass das 2:2 erst so spät fiel, grenzte an ein Wunder. Die Engländer wurden geradezu in Ekstase versetzt. Trainer Manuel Pellegrini sprach von einem "der besten europäischen Abende der Klub-Geschichte". Die "Daily Mail" listete fünf Gründe auf, "warum das Manchester Citys Jahr in der Champions League werden könnte". Für die Borussia sind das alles indirekte Komplimente.

9. Ein neuer Dauerbrenner Nicht nur Gladbachs dritte Europacup-Saison in den vergangenen vier Jahren ging am Dienstag zu Ende. Oscar Wendt hat in dieser Zeit an 19 von 26 internationalen Spielen mitgewirkt, aber das sind nicht die Zahlen, auf die es ankommt: Der Schwede wurde in Manchester ausgewechselt, nachdem er zuvor 3594 Minuten am Stück auf dem Platz gestanden hatte, also fast 40 komplette Spiele. Borussias neuer Dauerbrenner heißt Andreas Christensen, der jetzt 17-mal in Folge durchgespielt hat.

10. Ausgeruht aus dem Vollen schöpfen "Manchester bedankt sich, Scheich Mansour", war auf einem Banner im Etihad-Stadium zu lesen. "Mönchengladbach bedankt sich bei Manchester", könnte es im Frühjahr heißen, wenn sich Borussias Lazarett etwas geleert hat und die Mannschaft in einer wichtigen Phase der Saison ausgeruht aus dem Vollen schöpfen kann. Denn ausgerechnet das Aus in der Champions League erhöht Gladbachs Chancen, bereits 2016 wieder dabei zu sein. Auch wenn die Hymne in Sevilla kaum zu hören war und in Manchester ausgebuht wurde, ist auf die Akustik im Borussia-Park Verlass.

(jso)
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