Christoph Kramer im Interview „Fehlende Leidenschaft? Das gibt es nicht“

Mönchengladbach · Borussias Mittelfeldspieler Christoph Kramer spricht über Einstellungs-Fragen, das neue 4-3-3-System der Gladbacher und seine Zeit als WM-Experte.

Porträt: Das ist Christoph Kramer von Borussia Mönchengladbach
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Das ist Christoph Kramer

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Foto: Dirk PŠffgen/Dirk Paeffgen (dirk)

Herr Kramer, Sie haben am Samstag eine Chance verpasst. Sie sind Trikot-Sammler und hätten gern das Leibchen des Ex-Kollegen Jannik Vestergaard eingesammelt beim Testspiel in Southampton. Aber Sie hatten Kreislaufprobleme im Training und waren deshalb nicht dabei. Ist alles wieder gut?

Kramer Ja, sicher. Und es stimmt, das Trikot von Jannik hätte ich gern mitgenommen. Wer es jetzt hat, weiß ich gar nicht, aber ich konnte es auch nicht mitbringen lassen. Es zählen für mich nur Trikots aus Spielen, in denen ich dabei war. Ich hätte es gern gehabt, wir spielen ja nicht europäisch, deswegen sind die Gelegenheiten, internationale Trikots zu bekommen, nicht so groß. Aber wir spielen ja noch gegen Espanyol Barcelona am Samstag, da sollte es klappen.

Haben Sie ein Hemd im Visier?

Kramer Nein, ehrlich gesagt nicht. Ich schaue mal, wer ein gutes Spiel macht und frage nach.

Mal abgesehen von den Trikots ist es im Moment sportlich schwierig, ein Testspiel zu verpassen. Es ist die heiße Phase der Vorbereitung, es geht um die Stammplätze.

Kramer Ich habe alle Testspiele vorher mitgemacht, und ich denke, ich habe mich positioniert. Ich bin gut im Saft, von daher sollte das verpasste Spiel nicht so schwer wiegen.

Ist der Konkurrenzkampf größer als im vergangenen Jahr?

Kramer Es war noch nie so, dass ich nicht im Konkurrenzkampf war. Abgesehen davon sehe ich in den Jungs in erster Linie Mitspieler statt Konkurrenten. Es ist aber gut, wenn möglichst alle dabei sind und der Trainer viele Alternativen hat, dann ist richtig Zug im Training.

Ist es tatsächlich so, dass weniger Zug da ist, wenn viele Spieler wissen, dass sie sicher spielen?

Kramer Gerade wenn viele Neuzugänge da sind und der Kader wie unserer breit aufgestellt ist, ist ja klar, dass jeder alles dafür tut, sich zu positionieren. Dass dann viel Zug drin ist, liegt auf der Hand. Ich muss allerdings sagen: Wir haben in diesem Jahr in der Breite eine extrem hohe Qualität.

War das vorher nicht so?

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Foto: dpa/Marius Becker

Kramer So wie in diesem Jahr habe ich es nicht empfunden, muss ich sagen.

Auf Ihrer Position, der Sechs, gibt es eine Planstelle weniger, weil im 4-3-3 die Doppelsechs wegfällt.

Kramer Für mich ist es ein Mann mehr. Wir haben jetzt drei Spieler im Zentrum, den einen Sechser und die zwei Achter. Da hat jeder Mittelfeldspieler eine Option mehr zu spielen.

Was ist der Vorteil des 4-3-3?

Kramer Was uns in dem System gut tut, ist, dass wir eine andere Grundordnung haben und ein bisschen mehr Druck auf den Ball aufbauen können. Das ist im 4-4-2 nicht so gegeben. Wir haben jetzt einige Varianten, wie wir Druck auf den Gegner aufbauen wollen, wir wollen früher stören, um weiter vorne in die Kontersituationen reinzukommen.  Das ist, denke ich, im 4-3-3 sehr gut möglich.

Warum ging das im 4-4-2 nicht?

Kramer Wenn du das 4-4-2 flach spielst und ein Gegner wie Frankfurt einen breiten Dreieraufbau hat, ist es schwer, Druck auf den Ball zu machen, ohne an Kompaktheit zu verlieren. Für die Stürmer ist es schwer, den Dreieraufbau zuzulaufen. Wenn du dann wilder anläufst, gehst du mehr Risiko. Oder du machst es aus der Kompaktheit heraus, was gut ist, aber dazu führt, dass man vorn keinen Druck auf den Ball hinkriegt. Unser Trainerteam hat das sehr gut analysiert. Wir wollen mehr Druck im Spiel aufbauen, und bisher sieht das, wie ich finde, ganz gut aus.

Trainer Dieter Hecking hat gesagt, es habe nach dem letzten Saisonspiel in Hamburg eine klare Ansage an das Team gegeben, dass die Selbstgefälligkeit, die da an den Tag gelegt wurde, nicht mehr akzeptiert werde.

Kramer Es ging da nicht nur um das Spiel in Hamburg. Es war ja in der Saison ein bisschen wie ein roter Faden. Wir hatten immer mal Spiele drin, in denen es vielleicht von außen behäbig aussah, auch wenn wir es nicht bewusst gemacht haben. So etwas hat ganz viele Gründe. Darum ist es gut, dass das Trainerteam jetzt einen neuen Ansatz wählt mit einem anderen System, in dem man anders in den Räumen steht, anders im Spiel ist und dadurch mehr auf dem Sprung nach vorn ist.

Die System-Änderung ist auch ein Zeichen des  Trainers ans Team?

Kramer Irgendwie schon, ja. Wenn man die bisherigen Spiele der Vorbereitung gesehen hat, kommt da mehr Biss und mehr Leidenschaft rüber, weil wir einfach vorn aggressiver zur Sache gehen, um den Ball zu bekommen.  Es wurde uns ja vorgeworfen, dass uns das gefehlt habe.

Zu Recht?

Kramer Ich bin ganz ehrlich: Als ich in Hamburg das 4:1 der Stuttgarter in München gesehen habe, war es bei mir sehr schwer. In dem Spiel, ja, da war es so. Aber über die Saison gesehen kann ich sagen: Ich würde niemanden aus dem Team vorwerfen, dass er nicht mit der nötigen Leidenschaft ins Spiel gegangen ist. Aber es gibt immer schlechte Phasen in einer Saison, bei jedem Spieler, und wir konnten nicht mal einfach einen draußen lassen, weil wir das Problem mit den vielen Verletzten hatten. Dann kamen viele aus Verletzungen zurück und mussten gleich wieder spielen. Aber dass einer auf den Platz geht und sagt: „Heute mal 80 Prozent, heute mal locker“ – das gibt es heute nicht mehr. Wenn du nur mit 99 Prozent spielst, wirst du gleich aufgefressen.  Wenn das Licht im Stadion angeht, kann ich mich auf unser Team verlassen, darauf, dass alle wollen. Fehlende Leidenschaft? Fehlender Siegeswillen? Das gibt es nicht.

Warum kommt das nicht immer so rüber?

Kramer Das liegt an vielen Faktoren. Jeder hat auch eine andere Körpersprache, das darf man nicht vergessen. Raffa zum Beispiel ist ein eleganter Spieler, da sieht es einfach nicht so aus, als würde er sich volle Kanne auspowern, das ist einfach so, das muss man akzeptieren. Ich bin nicht so elegant, da sieht es vielleicht so aus, dass ich immer alles gebe, weil ich so wild laufe. Aber noch mal: Wenn ich vor einem Spiel in die Kabine schaue, sehe ich nur Leute, die gewinnen wollen.

Das bedeutet, man muss akzeptieren, dass es Tage gibt, an denen manche Sachen einfach nicht funktionieren aus diversen Gründen?

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Kramer Das ist so. Und wenn dann eine Phase mit vielen Niederlagen kommt, ist es dann auch nicht mehr leicht, auf den Platz zu gehen und zu sagen: So, hauen wir mal einen raus. Wenn alles läuft, ist der Fuß leichter, wenn es nicht läuft und man schleppt schon einen Rucksack mit sich herum, wird es schwerer. Aber man muss sich immer wieder überwinden, immer an das glauben, was man spielen will. Diese Grundeinstellungen gehören im Fußball immer dazu, ohne die geht es nicht. Das Mentale ist wichtig, aber auch ein kühler Kopf, um deine Aufgaben auf dem Platz zu erfüllen.

Das bedeutet, den Plan des Trainers umzusetzen?

Kramer Natürlich. Man muss auf das hören, was das Trainerteam vorgibt. Wenn es jeder perfekt umsetzt, sieht es auch bissig aus.

Manche sagen, der Trainer habe das Team nicht immer entscheidend erreicht.

Kramer Wie soll das denn aussehen? Nehmen wir das Spiel gegen Hamburg: Wenn uns der Trainer so erreicht, dass wir alle einen halben Kilometer mehr laufen und wir verlieren trotzdem. Es hat nichts damit zu tun – für mich ist das Argument, der Trainer erreicht eine Mannschaft nicht, Quatsch. Man muss einfach Siegermentalität haben und mit einem klaren Kopf umsetzen, was der Trainer vorgibt. Wenn man das tut, ist das eine Voraussetzung für den Erfolg. Und wenn wir das neue System so umsetzen, wie der Trainer es plant, werden wir auch wieder den nötigen Erfolg haben, da bin ich mir sicher. Man sollte nicht erwarten, dass wir jetzt ein Pressing spielen, wie Chile in besten Zeiten. Aber bis jetzt sieht es gut aus, dass die Analyse der vergangenen Saison Früchte trägt.

Sie haben im Sommer die Seite gewechselt, waren als Experte beim ZDF während der WM. War es schwierig?

Kramer Nein, es ist mir nicht schwer gefallen, zu sagen, wenn Spiele schlecht waren. Ich denke, ich habe da einen guten Weg gefunden, das rüberzubringen. Mir war wichtig, bei der Analyse zu bleiben und nicht nur in Schlagzeilen zu denken. Außerdem sollte es nicht nur darum gehen, das Negative rauszukehren, um für Gesprächsstoff zu sorgen. Aber das ist ein gesellschaftliches Problem, würde ich sagen.

Mancher sagte: Es wäre besser gewesen, wenn Sie statt im TV-Studio zu stehen, Urlaub gemacht hätten, um Kraft zu tanken für die neue Saison.

Kramer Ich habe vier Wochen Urlaub gehabt und in der Zeit eine Asien-Reise gemacht. Da habe ich die Akkus aufgefüllt. Dann war ich zwei Wochen WM-Experte. Klar, es wird ein paar Leute im Stadion geben, die sagen, wenn ich einen Ball verliere, dass ich zu wenig Urlaub hatte. Aber ich denke, ich bin gut erholt in die Vorbereitung gegangen und habe das bisher auch bestätigt.

Was hat Dieter Hecking zum Einstieg in die Vorbereitung gesagt?

Kramer Dass wir mit der System-Umstellung einen neuen Reiz setzen wollen. Bisher hat sich gezeigt, dass das gelungen ist.

Los geht es im Pokal beim BSC Hastedt, dann kommt zum Liga-Auftakt Bayer Leverkusen. Gleich ein Derby, ist das gut?

Kramer Das hatten wir in den letzten beiden Jahren auch, erst Bayer, dann Köln. Wir werden auf jeden Fall gleich richtig gefordert, denn Bayer hat eine ganz starke Mannschaft, die sehr stabil wirkt. Es wird für uns ein krasser Gradmesser.

Was ist drin in dieser Saison?

Kramer Von mir gibt es dieses Mal gar keine Tendenzen. Ich habe mir ganz klar vorgenommen, jedes Spiel für sich zu nehmen. Es geht immer bei 0:0 los, es gibt kein Vorher und Nachher, du musst dir in jedem Spiel alles neu erarbeiten. Das ist in dieser ausgeglichenen Liga so, so wichtig.

Worauf freuen Sie sich besonders?

Kramer Ich freue mich immer auf jede Saison. Das Gefühl stumpft bei mir zum Glück nicht ab. Wenn ich da im Tunnel stehe, weiß ich, wofür ich all die Schufterei in der Vorbereitung bei brüllender Hitze mache. Ich finde es wichtig, dass man sich auf jedes Spiel freut, denn davon habe ich früher doch geträumt. Bei allem Druck, bei allen Fan-Protesten, bei allem, was es um den Fußball so gibt: Da unten auf dem Platz zu stehen, das zu erleben, das ist das Größte für mich. Da ist sicher jeder Spieler anders, aber ich spüre keinen Druck, nur Freude, ich freue mich, wenn die Saison losgeht, wenn ich auf dem Rasen stehe. Wenn dieses Gefühl mal nicht mehr da ist, höre ich auf, ganz ehrlich. Bei aller Ernsthaftigkeit, bei allem Drumherum: Es geht um die 90 Minuten auf dem Platz, und darauf muss man sich als Fußballer einfach freuen.

Karsten Kellermann führte das Gespräch.

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