Borussia und Expected Goals Warum die „Hundertprozentige“ im Fußball ausgedient hat

Mönchengladbach · „Den muss er machen!“ stimmt nicht immer: Das „Expected Goals“-Modell hilft, die Qualität von Torchancen objektiv zu bewerten.

 Borussias größte vergebene Chance der Saison: Thorgan Hazard im Hinspiel gegen Bayer Leverkusen.

Borussias größte vergebene Chance der Saison: Thorgan Hazard im Hinspiel gegen Bayer Leverkusen.

Foto: Dieter Wiechmann

Borussias Fabian Johnson hob auf der linken Seite den Kopf und sah, wie sich Thorgan Hazard in der Mitte von seinem Gegenspieler löste. Die Flanke kam perfekt, drei Meter vor dem Tor nahm Hazard den Ball direkt – und schoss Bayer Leverkusens Torwart Bernd Leno an. Statt in dieser Szene 2:0 in Führung zu gehen, kassierte Gladbach am Ende eine 1:5-Klatsche. Kein Borusse vergab in der abgelaufenen Saison eine größere Torchance. Woher wir das wissen? Die beiden Zauberwörter heißen „Expected Goals“. Für manchen Beteiligten in der Fußballbranche sind sie genau das: Zauberwörter. Andere sind genervt von der Bedeutung, die teils kryptischen Zahlen inzwischen beigemessen wird, wiederum andere sagen: Man muss noch viel weiter gehen.

Das Grundmodell der „Expected Goals“ ist in der breiten Masse noch nicht richtig angekommen, dabei ist es in vielerlei Hinsicht revolutionär. Die englische BBC begann vor einem Jahr sanft damit, „Expected Goals“, übersetzt „zu erwartende Tore“, in ihre Berichterstattung einzubauen. Banal ausgedrückt sind sie die Antwort auf Sätze wie „Den muss er doch machen!“ oder Begriffe wie „Hundertprozentige“. Machen musste den Hazard gegen Leverkusen definitiv, um eine sogenannte Hundertprozentige handelte es sich dennoch nicht. Abschlüsse aus dieser Distanz und mit dieser Art der Vorbereitung wie bei Hazard gehen in genau 71 Prozent aller Fälle ins Tor.

Woher wir das nun wieder wissen? Es gibt einen Algorithmus, der einen riesigen Datensatz ins Kalkül zieht. Die Seite „understat.com“, von der die Zahlen in diesem Text stammen, arbeitet mit mehr als 100.000 Torschüssen, die auf zehn Parameter hin untersucht werden. So bekommt ein Kopfball nach einer Ecke aus acht Metern Entfernung einen niedrigeren Wert als ein Abschluss eines Konters von derselben Stelle. Das anschaulichste Beispiel sind Elfmeter: Historisch gesehen, gehen 76 Prozent rein, weshalb hinter einem Elfmeter 0,76 „Expected Goals“ (abgekürzt mit xG) stecken.

Hazard war bei Borussia in der vergangenen Saison ein xG-Sorgenkind. 9,75 Tore aus dem Spiel heraus wären durchschnittlich zu erwarten gewesen, mit lediglich fünf erzielten blieb er so weit hinter seinen Möglichkeiten zurück wie kein anderer Bundesligaprofi. Auf Pech war das nur in einzelnen Fällen zurückzuführen, Extraeinheiten im Torschuss würden zweifellos nicht schaden – oder aber der Belgier müsste aus aussichtsreicheren Positionen schießen.

Die „Expected Goals“ erzählen jedoch nicht nur Geschichten über einzelne Spieler, sondern auch über Spiele und in der Summe über ganze Spielzeiten. Beim besagten 1:5 gegen Leverkusen (2,5:2,24 xG) hätte Borussia ein Unentschieden verdient gehabt, Bayer versenkte von sechs Schüssen aufs Tor sagenhafte fünf. Als Gladbach im Februar nach vier Niederlagen in Folge mal wieder Punkte holte, war das scheinbar erlösende 1:0 gegen Hannover 96 sogar leicht unverdient angesichts einer xG-Verteilung von 1,51:2,14.

Bei Gladbach spiegelt die hypothetische „Expected Points“-Tabelle (siehe Grafik) trotzdem das reale Ergebnis wider. Es waren eher Konkurrenten wie RB Leipzig, der VfB Stuttgart, 1899 Hoffenheim und ganz besonders der FC Schalke, die zu viel aus ihren Möglichkeiten herausholten. Dahinter kann ganz einfach Glück stecken, oder aber ein Klub nutzt einen Fehler im System, denn perfekt ist das „Expected Goals“-Modell noch nicht.

Ein verfeinerter Algorithmus soll künftig die Zahl der Gegner zwischen Schütze und Tor berücksichtigen, den Druck des Gegners und die Position des Torhüters. Zudem fließen bei einigen Anbietern bereits Chancen ein, bei denen der Angreifer gar keinen Torschuss abgab. In dieser „Expected Goals“-Statistik taucht auch die Szene auf, in der der Borusse Josip Drmic gegen den FSV Mainz gut 40 Meter vor dem Tor an Keeper René Adler hängenblieb. Offiziell war das kein Schuss, doch Drmic hätte freie Bahn aufs leere Tor gehabt – und damit eine noch größere Chance als Hazard gegen Leverkusen.

(jaso)
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