Tuchel ersetzt Nagelsmann Warum der FC Bayern jetzt fast alles riskiert

Analyse | Düsseldorf · Der FC Bayern trennt sich von Julian Nagelsmann und holt Thomas Tuchel. Die überraschende Entscheidung gewährt Einblicke in das Seelenleben eines Klubs, der mit der eigenen Identität ringt und dem es erkennbar an Führungsqualitäten fehlt.

 Thomas Tuchel als Trainer des FC Chelsea.

Thomas Tuchel als Trainer des FC Chelsea.

Foto: dpa/Darko Bandic

Profifußball ist eine Lehranstalt fürs Leben. Wer gegen jede Vernunft seinen Emotionshaushalt an das Schicksal eines mittelständischen Unternehmens knüpft, lernt früh den Umgang mit Niederlagen und Verlust. Nun herrscht beim FC Bayern für Niederlagen ein schlechtes Wachstumsklima. Doch selbst chronisches Gewinnen kann den Lauf der Dinge nicht aufhalten: Julian Nagelsmann hat mit gerade mal 33 Jahren einen Fünf-Jahres-Vertrag unterschrieben. 25 Millionen Euro Ablöse war er den Münchnern im Sommer 2021 wert. Doch obwohl er die zehnte Meisterschaft in Serie holte, vollzieht der Klub nun den siebten Trainerwechsel dieser beispiellos erfolgreichen Ära.

Trotz des Vertrauens, das der Klub nicht zuletzt mit dem langfristigen Vertrag zu beteuern versuchte, kam am Ende alles zu früh. Fußballtrainer unterschreiben mit ihrem Vertrag absehbar immer auch ihre Entlassungspapiere, das gilt unabhängig von ihrem Herstellungsdatum. Bei einem, der aber noch nie der Älteste in der Kabine war, wird das umso deutlicher. Für eine Karriere am Reißbrett war Nagelsmann einfach viel zu früh viel zu erfolgreich. Wer mit 35 schon die Bayern hinter sich hat, für den wird es schwer, sich noch nach neuen Herausforderungen umzusehen.

Sein langfristiger Vertrag dokumentierte diesen Zwangsläufigkeiten zum Trotz die erkennbare Sehnsucht nach etwas Dauerhaftem. Nach einer Beziehung wie zwischen Manchester United und ihrem Faktotum Alex Ferguson, der über 26 Jahre blieb. Nagelsmann brachte vieles mit, um diese Rolle zu besetzen. Einer, der sich einen Zugang zu diesem Spiel verschafft hat, wie ihn vielleicht nur eine Handvoll auf diesem Planeten haben. Was ihn schon zu Beginn seiner Trainerlaufbahn mit erstaunlich robustem Selbstbewusstsein ausgestattet hat. Bemerkenswert breitbeinig im öffentlichen Auftritt, einfühlsam, ironisch, pointiert und sendungsbewusst mit sicherem Gespür für die jeweils geeigneten Momente, um sein breites Repertoire aufzuführen. Ein merkwürdig selbstverständliches Bindeglied zwischen der Generation TikTok und Uli „Ich war noch nie im Internet“ Hoeneß. Einer, der Innovationsglauben und Wertkonservatismus in sich vereinte und seinem dokumentieren Lebensalter früh uneinholbar enteilt war. Als wäre er bei dem Versuch aus einem Labor entfleucht, die besten Extrakte aus Pep Guardiola und Christian Streich miteinander zu kreuzen. Wenn einer den Mechanismen des Geschäfts hätte trotzen können, dann dieses so erstaunlich groß gewordene Wunderkind.

Natürlich war da auch ein Champions-League-Aus gegen den FC Villareal in der Vorsaison, das die Bayern seltsam widerstandslos über sich ergehen ließen. Nie ganz auszumerzende Rückschläge, der weitgehende Ausfall tobsuchtsartiger Dominanzgesten auf dem Feld, wie sie sich unter Guardiola in ihrer ausgeprägtesten Form zur Regel wurden und Gegner bereits mit erhobenen Händen das Stadion betreten ließen. Nebengeräusche wie zuletzt eine Maulwurfaffäre, seine unsouveräne Schiedsrichterschelte, die seltsame Trennung von Neuer-Intimus Toni Tapalovic oder seine privaten Verbindungen zum Boulevard werden die Bosse in Nagelsmanns Bilanz eingepreist haben. Auch addiert reicht das freilich nicht aus, um seine Entlassung zu begründen. Über die wahren Hintergründe darf vor allem angesichts der noch vor Tagen erhärteten Treueschwüre von etwa Präsident Herbert Hainer deshalb fantasievoll spekuliert werden. Verfügbar war Thomas Tuchel schließlich schon im Winter. Sogar innerhalb der Länderspielpause wirkt der Zeitpunkt der Trennung nicht so, als hätten die Bayern ihn mit Weitsicht gewählt. Zumal in einer Woche bereits das vorentscheidende Spiel gegen Borussia Dortmund ansteht. Die Bayern scheinen seltsam überrumpelt.

So verfestigt sich das Bild eines Klubs, der sich auf höherer Ebene erkennbar mit einem misslungenen Generationswechsel herumquält. Präsident Hainer, Vorstandschef Oliver Kahn und Sportvorstand Hasan Salihamidzic sind aus unterschiedlichen Gründen damit überfordert, die freilich überlebensgroßen Lederhosen ihrer Vorgänger auszufüllen. Der FC Bayern ist im internationalen Vergleich – die einzig relevante Währung für den Rekordmeister – kein Akteur mehr. Obwohl der Klub sich exzellent darauf verstanden hat, sich eigene Zugänge zum Geld zu verschaffen, reicht das nicht mal für den Wettstreit mit der Premier League. Wenn zudem Staatsfonds aus Katar und Saudi-Arabien Klubs weitgehend nach Belieben bezuschussen, sind die Bemühungen der Münchner höchstens noch ehrenwert. Erschwerend strahlt die ätzende Zweitklassigkeit der Bundesliga auf den Stern des Südens ab.

Statt selbst als Akteur auf dem Transfermarkt aufzutreten, musste sich Deutschlands erfolgreichster Fußballklub mit dem begnügen, was vom Tisch fiel, wenn die Großen fertig waren. Die Bayern waren vor allem in Person von Salihamidzic schwer darauf bedacht, das zu verklären. Wahr ist: Mit Sadio Mané, später Matthijs de Ligt und zuletzt Joao Cancelo kamen neue Weltstars an die Säbener Straße. Am liebsten unerwähnt blieb: Einige dieser Transfers kamen allein deshalb zustande, weil sie möglich waren. Mané erfüllte zu keinem Zeitpunkt das geeignete Profil, um den für die Statik so folgenreichen Abgang von Robert Lewandowski zu kompensieren. Der 30-Jährige kam auch, weil Salihamidzic sich mit ihm schmücken konnte. Dass der Rekordmeister im Ergebnis nun mit einer Unwucht im Kader durch Europa rollt, die Eric Maxim Choupo-Moting kaschieren muss, ist ein sträfliches Versäumnis, das auch für Tuchel vor den entscheidenden Wochen des Jahres eine schwere Hypothek bedeutet.

Das ist Bundestrainer Julian Nagelsmann - von Hoffenheim über Leipzig, Bayern München zum DFB
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Das ist Fußball-Bundestrainer Julian Nagelsmann

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Foto: dpa/Arne Dedert

Eine Ebene höher taugt Salihamidzic selbst als Ausweis einer kurzsichtigen Personalpolitik. So planvoll und beinahe zwangsläufig die Ehe zwischen Nagelsmann und den Bayern erschien, so seltsam uninspiriert lässt der Klub einen wurschtelnden Sportvorstand über sich ergehen. War der eingangs noch beinahe in Vollzeit mit Selbstverteidigung beschäftigt, hat er klubintern enorm an Einfluss zugelegt. Schon der Trennung vom durchaus erfolgreichen Vorgänger Hansi Flick ging ein offener Machtkampf voraus, den der Sportvorstand für sich entschied. Namhafte Zugänge zahlten zwar intern auf ihn ein, eine überzeugende Transferstrategie wie bei Borussia Dortmund oder RB Leipzig ließ er trotz glücklicher Entscheidungen zu keinem Zeitpunkt erkennbar werden.

Insofern passt Tuchel ins Bild: Er war verfügbar und ist einer der vermutlich vier besten aktiven Trainer, von denen mit Nagelsmann und Pep Guardiola ja zwei schon da waren. So schwierig die Entscheidung gegen Nagelsmann von außen nachzuvollziehen ist, so zwangsläufig fiel die Wahl auf Tuchel. Wer den 49-Jährigen verpflichtet, bekommt aber nicht nur den Weltklassetrainer, sondern auch einen auffällig konfliktbereiten Menschen. In Dortmund erzählt man sich mit wohligem Schauer Gruselgeschichten über zwei Thomas Tuchels. Einem Schleifer mit fragwürdiger Menschenführung, der weitgehend autark von dem smarten Charmeur agiert, der an guten Tagen die Öffentlichkeit um seine schlanken Finger wickeln kann.

Dass der exzellente Taktiker den besessenen Asketen mit im Gepäck hat, wenn er an der Säbener Straße die Arbeit aufnimmt, damit müssen die Bayern kalkulieren. Bis er das Gegenteil beweist, sollte man Tuchel aber zugestehen, dass er sich bei seinen Stationen in Paris und beim FC Chelsea auch im Umgang mit seinem Personal weiterentwickelt hat. Sich im höchsten Regal zurechtzufinden, hat er bewiesen, indem er Neymar und Kylian Mbappé händelte. An Format wird es dem neuen Coach nicht fehlen.

Nagelsmanns Geist wird freilich weiterhin über der Säbener Straße schweben. Sobald es knirscht, wird das auch den Bossen auf den Füße fallen. Mit diesem Trainerwechsel haben sie ein Lebensgefühl rückstandslos genullt, in dem sich die Spieler trotz des Dauerdrucks noch an Restbeständen eines beinahe wohlig-familiären Wir-gegen-den-Rest-der-Welt-Gefühls aufwärmen konnten. Es ist frisch geworden an der Säbener Straße. Sollten die wegweisenden kommenden Wochen mit dem Spiel gegen Dortmund und dem Champions-League-Viertelfinale gegen Manchester City misslingen, wird es ein frostiges Frühjahr.

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