Bayer 04 Lehrer Heynckes unterrichtet Bayer

Der Trainer will es mit 64 Jahren noch mal wissen. Nach dem fünfwöchigen Gastspiel bei Bayern München ist der gebürtige Mönchengladbacher in Leverkusen eingestiegen. "Ich will Prozesse anstoßen", sagt er, "wir müssen uns in allen Bereichen verbessern." Ein Porträt.

Heynckes bittet zum Trainings-Auftakt
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Der Krieg ist gerade vorbei, und Mönchengladbach liegt in Trümmern. Grau ist die Farbe dieser Tage, und auch der Frühling frischt sie nicht nachdrücklich auf. Wer in diese Zeit geboren wird, der lernt früh, dass Bequemlichkeit nicht notwendig zum Leben gehört. Zumal wenn er als neuntes von später zehn Kindern im Haushalt eines Schmieds zur Welt kommt und bei der Geburt nur fünf Pfund wiegt.

"Aber ich habe in meiner Familie alles für mein Leben gelernt", sagt Jupp Heynckes, das Leichtgewicht von damals, "Rücksichtnahme, Sozialverhalten, Bodenständigkeit."

Und die so wesentliche Kunst, sich als eigenständige Persönlichkeit durchzusetzen — immerhin schon mal in einem Zehner-Team. Heynckes wird ein Star im Fußball, als Stürmer und als Trainer. Bei Bayer Leverkusen ist er der prominenteste Neue der Saison. Ein 64-Jähriger, der es doch noch einmal wissen will.

Dabei hat er es eigentlich allen gezeigt. Den Spielkameraden auf dem Hinterhof im Mönchengladbacher Stadtteil Holt, denen er mit einer zum Fußball umfunktionierten Schweinsblase früh davonläuft. Den Abwehrspielern in der Bundesliga, die der Europa- und Weltmeister mit seiner Dynamik und Torgefahr vor unlösbare Probleme stellt.

Den Eltern, "die heute sicher sehr stolz auf mich wären". Und natürlich der Öffentlichkeit, die einen scheuen Spieler in die Rolle eines erfolgreichen Trainers wachsen sieht und die mit Staunen registriert, wie Heynckes zum Ende der zurückliegenden Saison den FC Bayern München in fünf Wochen wieder in die Spur bringt.

Das wäre ein schöner Abschluss einer großen Karriere gewesen, denn das kurze Gastspiel in München tilgt den Makel aus der Biographie, dass er bei Borussia Mönchengladbach, die er in den Achtzigern acht Jahre mit großem Erfolg trainierte, aufgeben musste. Ausgerechnet bei der Station, mit der sich der Kreis hätte schließen sollen.

"Ich habe der Borussia alles zu verdanken, deswegen habe ich den Vertrag unterschrieben", sagt Heynckes. Ein Fehler aus reiner Zuneigung. Er trifft bei der Borussia 2006 auf eine Mannschaft, die er nicht zusammengestellt hat, die überhaupt nicht harmoniert und die nicht bundesliga-tauglich ist. Seine Familie bekommt Morddrohungen, Heynckes lebt unter Polizeischutz. Ein Tiefpunkt.

Doch Heynckes erholt sich, steht wieder auf, wie so oft, lässt sich auch von gesundheitlichen Problemen nicht aus der Bahn werfen. "Nie aufgeben." Das ist so ein Lehrsatz, den er auch seinen Spielern beibringt. Aber sein Blick auf die Welt verändert sich. "Fußball ist wichtig und war für mich immer wichtig", sagt er, "aber man lernt, dass es wichtigere Dinge gibt."

Dennoch lässt ihn die Droge Fußball nicht los. Die fünf Wochen bei den Bayern "haben in mir Dinge geweckt, die verschüttet waren", erklärt der Trainer, "ich habe wieder gemerkt, was für einen Spaß es macht, mit jungen Menschen zu arbeiten".

In Leverkusen müssen sie das ebenfalls gespürt haben, denn das Angebot kommt im richtigen Moment. "Ich hätte das nicht überall gemacht", versichert Heynckes, "aber hier habe ich vieles vorgefunden, das mir gefällt: Das Organigramm eines seriösen Klubs, ein tolles Team hinter dem Team und eine gute Fußball-Mannschaft, die noch lange nicht am Ende der Fahnenstange angelangt und die noch zu verbessern ist."

Das liegt ihm. Sein Freund Uli Hoeneß hat ihn als Fußballlehrer im wörtlichen Sinn gepriesen, und Heynckes versteht sich als Vermittler. "Ich will, dass wir fußballspezifische Dinge miteinander erarbeiten", sagt er. Das beginnt mit Kleinigkeiten, "wie ich sie bei meinem Lehrmeister Hennes Weisweiler und bei meinen Stationen in Spanien gelernt habe".

Es fängt also mit der Grundschule des Passspiels an, mit den einfachen Kapiteln des Zweikampfverhaltens, der Organisation des Zusammenspiels. Es setzt sich bei der Vermittlung von Grundsätzen fort. "Immer gewinnen wollen", ist einer. "Spieler sollen eine eigene Identität entwickeln, Eigenverantwortung, sich selbst erziehen im Team. Ich will nicht alles reglementieren", ein anderer. Und es endet beim wichtigsten Wert: "Gegenseitiger Respekt."

Respekt ist ein Schlüsselwort für den Lehrer Heynckes. Die spanischen, besser baskischen Profis auf seiner "vielleicht schönsten Trainerstation" in Bilbao haben das Idealbild von gegenseitiger Achtung vorgelebt. Das will er weitertragen nach Deutschland, es klingt manchmal nach einer Mission. Er wird ganz lebhaft, wenn er darüber spricht.

Die Augen strahlen geradezu beschwörend, sie rollen sogar wild, und die Hände, mit denen in Südeuropa gern gesprochen wird, bändigt er auf deutsche Art irgendwo unter dem Tisch. Er weiß, dass er Leverkusen nicht in ein paar Monaten neu erfinden kann. "Es geht um Prozesse", betont er, "das geht nicht über Nacht." Aber er weiß auch, wo er ansetzen muss.

"Wir müssen uns in vielen Bereichen verbessern und unser Defensivverhalten radikal ändern. Jeder muss sich verbessern wollen", mahnt der bekennende Niederrheiner mit Wohnsitz im Schwalmtal, "und ich möchte, dass die Spieler aus sich herausgehen. Als Fußballer und Führungsfigur muss ich mich herauskristallisieren. So einer wie der Simon Rolfes darf einfach nicht so still sein."

Schließlich, Heynckes sagt das nicht, aber man hört es trotzdem, hat er es selbst auch geschafft. Aus dem Leichtgewicht, dem neunten von zehn Kindern, dem schüchternen Spieler mit den gelegentlich nervös flackernden Augen ist eine Persönlichkeit geworden — auf dem Platz und daneben. Ein Mann mit Gewicht. Er ist wieder mal in der Bundesliga angekommen. Von seiner Abschieds-Tournee redet er diesmal nicht. Vorsichtshalber.

(RP)
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