Bayer 04 Leverkusen Jungheim: Die Komfortzone ist auch eine Pflichtzone

Leverkusen · Helmut Jungheim spricht im Interview mit unserer Redaktion über Bayers Zugzwang im Wettstreit der Profiklubs um Talente, über Leverkusens Vorteil in diesem Konkurrenzkampf und über einen für ihn notwendigen Wertewandel im Verein, der auch vom Nachwuchs gelebt werden soll.

 Helmut Jungheim leitet das NLZ von Bayer Leverkusen.

Helmut Jungheim leitet das NLZ von Bayer Leverkusen.

Foto: Uwe Miserius

Herr Jungheim, Sie loben Bayer 04 für sein Modell, auf junge, talentierte Spieler zu setzen. Kritisieren aber, dass es zu häufig nicht die Eigengewächse waren, die es bis zu den Profis schafften. Woran liegt das?

Helmut Jungheim Den einen Grund gibt es nicht. Vielleicht lag es daran, dass die angebotene Qualität nicht ausreichend war, vielleicht hatte man auch nicht immer den Mut, die Leute einzusetzen. Damit tue ich mich aber schwer, denn der Mut zur Jugend ist ja da. Warum nicht der Mut zur eigenen? Das wollen wir verändern. Ich sehe schon erste Tendenzen. Marlon Frey und Benni Henrichs haben sich gut integriert.

Muss sich Bayer Leverkusen im Nachwuchs auch deshalb neu aufstellen, weil es unter Zugzwang geraten ist?

Jungheim Es gab Vereine, die sind wirtschaftlich gezwungen worden, auf eigene Jugendspieler zu setzen, und das hat funktioniert. Das Bewusstsein sollte aber auch ohne diese Zwänge reifen. Bei Bayer 04 tut es das, der gesamte Verein arbeitet in diese Richtung. Aber es stimmt auch, dass der Druck größer wird. Wenn man sich mit finanzkräftigen Engländern zanken muss, wird man Spieler wie Wendell in dieser Häufigkeit nicht mehr finden. Man muss als Verein mehr mit eigenen Leuten arbeiten, und das wollen wir auch. Aber man darf dabei den Anspruch des Klubs nicht vergessen. In sechs Jahren hat er fünfmal die Champions League erreicht. Auf dem Niveau müssen wir auch ausbilden.

Geht das?

Jungheim Das ist schwierig, aber es gibt Vereine, die machen es vor. Vor einigen Jahren spielte Barcelona in einem Meisterschaftsspiel gegen Levante mit elf Spielern aus "La Masia". Man kann Spieler für ein solches Niveau ausbilden, aber man muss die Latte hochlegen, um die letzten 10 bis 20 Prozent zur absoluten Spitze herauszuholen. Dazu gehört auch die richtige Einstellung.

Was meinen Sie damit?

Jungheim Man muss merken, dass man als Verein zu den 15 bis 20 besten Teams Europas gehört. Wir sollten diesen Anspruch selbstbewusst nach außen tragen. Auch im Nachwuchs. Da sind wir schnell bei der Komfortzone. Die ist für mich dringend notwendig auf diesem Niveau. Man braucht die besten Bedingungen, sie ist aber für alle, die hier arbeiten und spielen, auch eine Pflichtzone. Wenn ich diesen Komfort genieße, muss ich auch Top-Ergebnisse zurückgeben. Wenn das nicht gelingt, ist die Komfortzone natürlich negativ.

Was zeichnet die Mitarbeiter in Bayers Nachwuchsbereich aus?

Jungheim Wir arbeiten mit unheimlich viel Kontinuität, Erfahrung und Qualität. Und wir versuchen, zu jedem Spieler eine spezielle Bindung aufzubauen — unabhängig davon, ob er es in die Champions League schafft oder nicht. Bei aller Professionalität sehen wir im Gesamtpakt immer den Jungen im Mittelpunkt und versuchen, ihn nach vorne zu bringen. Offen und geradlinig zu sein, ist eine Nische. Das spricht sich rum, das eröffnet auch neue Chancen.

Was passiert künftig mit den A-Jugendlichen, für die es nicht reicht?

Jungheim Wir suchen nach individuellen Lösungen. 15 Spieler kamen jetzt aus der U 19, nur fünf haben Profiverträge. Die haben es schwerer, Vereine zu finden. Denen gegenüber haben wir aber auch eine Verantwortung. Da sitzen Erwachsene vor dir, für die eine Welt zusammenbricht, weil sie feststellen, dass es wohl nicht zum Profi reicht. Das ist brutal. Auch da sage ich, müssen wir mehr begleiten.

Was heißt das?

Jungheim Den Jungs sehr früh noch bewusster machen: Es kommen leider nicht alle oben an. Es ist keine Rolltreppe, die einen automatisch nach oben fährt, wenn man einen Vertrag bei Bayer 04 unterschreibt. Die Treppe steht und hat sehr hohe Stufen. Um diese zu überwinden, ist ein enormer Eigenanteil nötig. Die Jungen müssen wissen: Es ist ihr Talent und ihr Ziel. Das gilt es mit allen Fasern zu verfolgen. Aber sie müssen auch wissen: Dazu gehören Ruhephasen und Schule. Die Vereine müssen den sozialen Auftrag noch ernster nehmen und den Jungs sagen: Habt einen zweiten Plan, wenn es nicht reicht.

Das wollen Eltern und Spieler aber oft nicht hören…

Jungheim Aber das zu sagen, ist wichtig, sonst kommt mit 18, 19 Jahren der Schnitt, und die Jungs fallen in ein Loch.

Woran bemisst sich letztlich erfolgreiche Jugendarbeit? An Spielern, die es bis zu den Profis schaffen oder an Titelgewinnen im Nachwuchs?

Jungheim Beides ist wichtig. Es sind ja keine Widersprüche. Wenn wir eine Top-Ausbildung anbieten, werden wir automatisch Mannschaftserfolg haben. Entscheidend ist die Richtung. Wir wollen Erfolge über die Ausbildung der Spieler erreichen. Und nicht mit Gewalt einen Jugendtitel holen, aber niemanden nach oben bringen.

Stoßen Sie bei Roger Schmidt dabei auf offene Ohren?

Jungheim Jeder Trainer stellt zunächst mal die Spieler auf, von denen er überzeugt ist. Er wird immer den besseren einsetzen, weil er erfolgsorientiert handeln muss. Aber Roger gibt den Jungs die Chance. Benni Henrichs hat sich über seine Einsätze entwickelt. Er spielt viel stabiler, selbstbewusster, fordert mehr Bälle. Hoffentlich kann er in Zukunft daran anknüpfen.

Werden die Nachwuchsfußballer in Deutschland gut ausgebildet?

Jungheim Die Nationalteams zeigen, dass wir in Deutschland etwa 25 Top-Spieler haben. In der Youth League aber haben die deutschen Teams weit weniger erfolgreich abgeschnitten. Teils gab es hohe Niederlagen. Schalke ist als einziges Team zweimal weitergekommen. Wir müssen uns vielmehr die Frage stellen: Wie sieht es unterhalb dieser Top-Spieler aus? Die Breite ist nicht da, wo man sie sich wünschen würde.

Woran liegt das?

Jungheim Die Qualität hat nicht ausgereicht. Ich finde die Erkenntnis gut, weil sie wachrüttelt und zum Nachdenken anregt. Man dachte lange, die U-Teams sind gut, also ist die gesamte Ausbildung gut.

Wie bewerten Sie den Jugendwahn?

Jungheim Das Wort Wahn drückt schon nichts Positives aus. Fußball könnte ohne diesen Wahn ganz gut leben, weil viele ihr Top-Leistungalter zwischen 25 und 33 Jahren haben. Aber was sollen wir Julian Brandt sagen? Warte mal noch drei vier Jahre? Was wir heute aber nicht wissen: Funktioniert es mit 15 Profijahren? Halten die Jungs durch bis Mitte 30?

Ab Sommer holt Bayer erstmals zwei U15-Spieler von außerhalb…

Jungheim Das stimmt, normalerweise sind die Jungen mindestens 16 Jahre, wenn sie in Gastfamilien ziehen. Niklas und Michel kommen aus Osnabrück und spielen noch ein Jahr U15. Bei beiden machen wir eine Ausnahme, weil wir glauben, dass das Gesamtpaket mit Schule und Sport passt. Wir haben intensiv recherchiert. Die Familien waren mindestens zehn Mal hier oder wir bei ihnen, besuchten ihre Gastfamilien, haben alle kennengelernt. Michel ist ein bundesweites Talent, in Niklas sehen wir enormes Potenzial. Es wird spannend zu sehen, wie sie sich entwickeln.

Stefanie Sandmeier führte das Gespräch

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