Randale in Nizza Wie es zum Gewaltexzess kommen konnte und was es für die Ultra-Szene bedeutet

Analyse | Düsseldorf · Die Ausschreitungen im Rahmen der Conference-League-Partie des 1. FC Köln in Nizza werfen viele Fragen auf. Eine Aufarbeitung der Vorkommnisse und eine Einordnung von Experten.

Anhänger des 1. FC Köln stürmten über die Tribüne in Richtung Heimkurve.

Anhänger des 1. FC Köln stürmten über die Tribüne in Richtung Heimkurve.

Foto: dpa

Es waren erschreckende Bilder, die am Donnerstagabend aus Nizza zu sehen waren. Im Stadion von OGC kam es zu regelrechten Gewaltexzessen zwischen Anhängern des 1. FC Köln (darunter auch befreundete Ultras und Hooligans von Paris Saint-Germain und Borussia Dortmund), und der Franzosen. Auf der Haupttribüne schlugen sich die Fans regelrecht die Köpfe ein, benutzten Flaschen und Metall-Füße von Absperrbändern als Schlagwerkzeuge. Besonders dramatisch: der Absturz eines Fan aus dem Mittel- in den Unterrang, der offenbar noch mit glimpflichen Verletzungen davon kam. Mehrere Minuten lang konnten sich die gewaltaffinen Ultras und Hooligans beider Lager ungehindert schlagen, zwischenzeitlich mischten sogar die wenigen Ordner im Block mit, bevor die Polizei die Situation endlich unter Kontrolle brachte. Die Vorkommnisse im Vorfeld der Conference-League-Partie werfen die Frage aber auf, wie es überhaupt so weit kommen konnte und ob sich anhand dessen eine generelle Radikalisierung der Ultra-Szenen belegen lässt.

Eine eindeutige Antwort ist für Fan-Forscher Jonas Gabler schwierig. „Ich beobachte seit der Rückkehr zur Vollauslastung einen vermehrten Einsatz von Pyrotechnik. Ob es auch zu mehr Gewalt kommt, kann sich aus meiner Sicht nach so kurzer Zeit noch nicht definitiv sagen“, erklärte er im Gespräch mit unserer Redaktion. „Daher sollte man von den Vorfällen in dieser Woche nicht auf eine allgemeine Entwicklung rückschließen.“

Zumal in Nizza gleich mehrere Verkettungen von Umständen zur Gewalt-Eskalation führten. Zum einen war eine große Anzahl von PSG-Ultras vor Ort, die mit Köln eine Fanfreundschaft pflegen, mit Nizza aber eine tiefe Feindschaft verbinden. Die Gruppierung „Supras Auteuil“ ist in Frankreich aufgrund von Gewaltexzessen sogar verboten. Schon vor dem Stadion attackierten gewaltbereite Anhänger von OGC den Kölner Fanmarsch, setzten sogar Messer ein. Mindestens ein Fan – offenbar einer aus Paris – wurde offenbar verwundet. Die Polizei wirkte schon da laut Zeugenberichten vollkommen unterbesetzt und überfordert – wie bereits beim Champions-League-Finale im Mai in Paris. Im Stadion setze sich das beim Ordnungsdienst fort. Augenzeugen berichten davon, dass Einlasskontrollen quasi nicht stattfanden. Innerhalb der Behörden gab es bereits am Freitag massive Kritik.

Auch die sonst übliche bauliche Abgrenzungen zwischen dem Gästeblock und dem sonstigen Stadion fehlten komplett. Christian Keller, Geschäftsführer Sport beim 1. FC Köln kritisierte die Behörden, die „Vorschläge nicht wahrgenommen“ hätten, womit Auseinandersetzungen hätten verhindert werden können. Den Kölner und Pariser Chaoten waren Tür und Tor für ihre „Rache“ geöffnet – durch die sie nur zu gern gingen. Typisches Ultra-Denken: Aktion erfordert Reaktion. „Vielen Szenen bieten sich derzeit Möglichkeiten, das eigene Selbstverständnis zur Schau zu stellen. Das speist sich aus einem traditionellen Männlichkeitsgehabe, in dem Härte, Präsenz, Durchsetzungsvermögen und die Sichtbarkeit – und dadurch auch die Gewalt – Rollen spielen. Der Kern der Ulta-Subkultur ist, dass man sich nicht anpasst, sich wenig gefallen lässt“, sagt Gabler.

Die Hauptschuld schrieben OGC Nizza und die Behörden an den Fans aus Köln zu. Dabei hatte es bereits in der vergangenen Saison wiederholt Probleme mit den OGC-Fans gegeben. Damals musste das Spiel gegen Olympique Marseille abgebrochen werden, weil der Gäste-Spieler Dimitri Payet zunächst von einer Flasche am Kopf getroffen wurde und es später wüste Tumulte der Fans auf dem Rasen gab. Generell gibt es seit Monaten große Fan-Probleme in Frankreich.

Die gibt es offenbar gerade in Köln aber auch. Schon vor einigen Wochen fiel ein kleiner Teil der Anhängerschaft negativ auf, als man bei einem U23-Spiel in der Regionalliga West der rivalisierenden Szene von Rot-Weiß Oberhausen eine Zaunfahne klaute und es nach Tumulten sogar zum Spielabbruch kam. Vor einigen Monaten sorgten Gewaltsuchende bei einem Spiel der U19 gegen Genk für unrühmliche Szenen. Solche Auftritte dienen innerhalb der Ultra-Subkultur als Machtdemonstrationen. Vor allem nach der Corona-Zeit, in der die Projektionsfläche für die Ultra-Szene fehlte. „Es besteht offenbar eine Art Nachholbedarf, um sich gegenüber den anderen Szenen zu positionieren“, sagte Michael Gabriel, Leiter der Koordinationsstelle Fanprojekte unserer Redaktion. „Wir beobachten momentan eine Verschärfung der Situation, die besorgniserregend ist. Schon seit einigen Jahren wird in Teilen der Szenen vermehrt Kampfsport trainiert und die Bereitschaft zur Gewaltanwendung im Rahmen von Spielen und nicht nur bei verabredeten ,Matches‘ abseits der Stadien steigt.“

Für Gabler aber keine neue Tendenz. „Seit Beginn der 2010er-Jahre ist die Gewalt in den Szenen wieder mehr in den Fokus gerückt. Es gab Neugründungen von Gruppen, auch Hooligan-Gruppen, dadurch musste man sich innerhalb der Szenen positionieren. Es gibt meines Erachtens mehr gewaltaffine Ultras als noch zu Beginn der 2010er-Jahre.“

Wichtig wird nun sein, wie der 1. FC Köln und die eigene Fan-Szene die Vorkommnisse in Nizza aufarbeitet. Bereits am Donnerstagabend im Stadion machten viele der 8000 Anhänger deutlich, was sie von der Aktion der rund 100 Gewaltsuchenden hielten. „Wir sind Kölner und ihr nicht“, hallte es durchs Stadion. „Die Vorfälle in Nizza werden ein Ansatzpunkt für interne Diskussionen in der Szene sein. Ich kann mir vorstellen, dass dabei gewisse Grenzüberschreitungen auch als solche benannt werden“, sagt Gabler. „Für solche Prozesse ist es nach meiner Erfahrung hilfreich, wenn der Verein differenziert vorgeht und nicht mit dem Holzhammer agiert. Zugleich müssen auch klare Grenzen gezogen werden – identifizierte Täter sollten bestraft werden.“ Das kündigte der Verein bereits an.

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