Von der Platte in den Verein Wie Timo Boll die Nachwuchs-Situation im Tischtennis sieht

Analyse | München · Tischtennis hat fast jeder schon einmal gespielt. Als Freizeitvertreib begeistert der Sport viele. Den Vereinen fehlt dennoch der Nachwuchs. Weltklassespieler Timo Boll über die Probleme und neue Ideen.

 Timo Boll (r.) gratuliert Dang Qiu zum Sieg im EM-Viertelfinale.

Timo Boll (r.) gratuliert Dang Qiu zum Sieg im EM-Viertelfinale.

Foto: dpa/Marius Becker

Kinder drängeln sich um die Platte, tick, tick, tick, der Tischtennisball saust von einer Seite auf die andere, die Kinder flitzen um den Tisch. Im Park spielen Jugendliche an der Steinplatte, wer keinen Schläger hat, nimmt dann auch schon mal die Hand oder eine Pappe. Seit Generationen wird auf dem Schulhof, im Park, am Jugendzentrum oder im eigenen Garten Tischtennis gespielt. Den Weg in den Verein finden aber nur sehr wenige dieser begeisterten Freizeitspieler.

Das war mal anders. 688.034 Mitglieder zählte der Deutsche Tischtennisbund im Jahr 2002. Im Vergangenen Jahr waren es noch 518.386. Nach den WM-Erfolgen von Jörg Roßkopf und Steffen Fetzner waren es 1989 sogar 820.000 Mitglieder. Seitdem hat die Zahl trotz der vielen internationalen Erfolge von etwa Timo Boll oder Dimitrij Ovtcharov fast kontinuierlich abgenommen.

Timo Boll – Rekord-Meister, Weltranglisten-Erster, Borussia Düsseldorf
20 Bilder

Das ist Timo Boll

20 Bilder
Foto: dpa/Andreas Arnold

Dabei spielen nach Schätzungen des DTTB Millionen Kinder, Jugendliche und Erwachsene in ihrer Freizeit Tischtennis. Nur in den Vereinen kommen sie nicht an. Heute noch weniger als noch vor 30, 20 oder zehn Jahren.

Auch Timo Boll, der seit mehr als 20 Jahren das deutsche Tischtennis prägt und zur Weltklasse gehört, sieht das mit Besorgnis. Immerhin wirkt sich fehlender Nachwuchs in den Vereinen über kurz oder lang auch auf den Leistungssport aus. Der ist auf neue Talente aus den Vereinen angewiesen, um international konkurrenzfähig zu bleiben. Und so manche Spielerin, so mancher Spieler mit Potenzial für die Bundesliga, Europa- und Weltmeisterschaften wird so vielleicht gar nicht erst entdeckt.

European Championships 2022 – Medaillenspiegel​: Alle Medaillen-Gewinner
37 Bilder

Der Medaillenspiegel European Championships 2022

37 Bilder
Foto: AP/Martin Meissner

Aber wie lässt sich diese Diskrepanz zwischen Begeisterung für den Freizeitsport und dem mangelnden Interesse am Vereinssport auflösen? „Man muss im Verein ein gutes Angebot machen. Ich kenne das aus meinem Heimatverein TSV Höchst. Seitdem dort ein gutes Training angeboten wird und ein guter Trainer da ist, ist die Halle wieder voll. Das ist das Entscheidende: Dass die Kinder gut unterhalten, gut bespaßt werden, damit sie einfach Freude am Tischtennis entwickeln können. Ein gut geführtes Training ist das Allerwichtigste“, sagte Timo Boll am Rande der European Championships in München unserer Redaktion.

Auch dort kamen zahlreiche Kinder zu den EM-Spielen und bewunderten ihre Idole, sahen, wie der Düsseldorfer Spieler Dang Qiu erst Verinskollege Boll schlug und dann Europameister wurde. Ob sich dieses Erlebnis später auch in den Vereinen niederschlägt? „Wir Spitzensportler müssen international für gute Ergebnisse sorgen, damit für die Kinder ein gewisser Anreiz da ist, Tischtennis spielen zu wollen. Daneben muss man versuchen, die vielen Hobbyspieler an den Platten im Freibad oder auf dem Schulhof abzuholen. Das ist nicht ganz einfach“, sagte Boll. Es gebe viele Menschen, die Tischtennis spielen. „Würden die alle im Verein spielen, hätten wir eine Sorge weniger“, sagte die Tischtennis-Ikone.

Sein einstiger Doppel-Partner Steffen Fetzner stimmt ihm da zu: „Es gibt Interesse am Tischtennis. Gerade in der Corona-Pandemie haben viele Familien den Sport für sich entdeckt, weil man ihn mit einer eigenen Platte gut auch zu Hause machen kann.“ Die Nachfrage an Platten und Tischtennis-Robotern sei in der Zeit riesig gewesen, weiß der Doppel-Weltmeister von 1986, der auch für einen Tischtennis-Ausrüster arbeitet.

Vor ein paar Jahren sei das noch anders gewesen. „Da lagen die Kinder eher auf der Platte und haben auf dem Handy gespielt. Jetzt stehen sie im Park wieder an der Platte und spielen Tischtennis“, sagte Fetzner. Genau dort müssten die Vereine die Leute nun abholen. Zu den Orten gehen, an denen die Kinder spielen, Werbung machen, ein gutes Angebot bieten.

„Die Vereine müssen jetzt darauf vorbereitet sein, das Interesse zu nutzen. Und es müssen die Trainer da sein, um die Kinder in den Hallen zu trainieren“, sagte der ehemalige Vizepräsident der Deutschen Tischtennisbundes. Oft seien gar keine oder zu wenige Trainer in den Vereinen vorhanden. Kinder, die dann ohne Anleitung gegen Gleichaltrige auf dem gleichen Level spielen würden, keine Chance hätten, sich in dem Sport weiterzuentwickeln, würden zurecht enttäuscht wieder gehen. „Da muss es in Deutschland ein Umdenken geben, da sind wir noch nicht professionell genug aufgestellt im Trainerbereich“, sagte Fetzner. Das müsse aber eben auch bezahlt werden.

Doch auch das Freizeitverhalten der Menschen hat sich in den vergangenen Jahren verändert. Während man die Tischtennisplatte im Garten oder Park dann nutzen kann, wenn man Zeit und Lust hat, bringt Vereinssport eine gewisse Verpflichtung und Regelmäßigkeit mit sich. Darauf wollen sich viele nicht mehr einlassen. Kinder sind zudem inzwischen durch die Ganztagsbetreuung oft bis zum späten Nachmittag in der Schule gebunden.

„Wir dürfen nicht in alte Muster mit festen Trainingszeiten verfallen. Wir müssen offene Hallen bieten, die flexibler für Training genutzt werden können“, rät Fetzner. Die Tendenz gehe klar zu Angeboten, bei denen man flexibel einen Tisch nutzen kann, vielleicht noch ein Shop in der Halle integriert ist, bei dem man sich Schläger und andere Ausrüstung besorgen kann, und Trainer zur Verfügung stehen, um die Sportler anzuleiten.

Das alles wären Schritte, die dafür sorgen könnten, dass es auch zukünftig ausreichend Top-Talente für das deutsche Tischtennis gibt. Dass es nicht irgendwann einen Einbruch gibt, wie in so vielen anderen Sportarten. Für die Zeit nach der Ära Boll sieht dieser selbst das Männer-Nationalteam gut aufgestellt. Ohnehin sind da noch Ovtcharov, der längst der nächste große deutsche Tischtennis-Star ist und in der Rangliste vor Boll liegt, und Patrick Franziska. Und auch dahinter kommen einige jüngere Spieler, die Druck auf die Etablierten machen. Dang Qiu hat gerade erst bei der EM bewiesen, dass er auch internationale Titel gewinnen kann und zur Weltklasse gehört. Der 25-Jährige ist eine Hoffnung für die Zukunft.

„Ich hatte gedacht, dass es problematischer werden könnte, aber die Jungs haben einen großen Sprung gemacht. Dang (Dang Qiu, Anmerkung der Redaktion) hat sich super verbessert. Kay Stumper hat einen Schritt nach vorne gemacht. Mit viel Fleiß haben einige noch spät einen großen Sprung gemacht“, sagte Boll. In China würde das so nicht funktionieren. Da müsse man schon mit 16 oder 17 so gut sein, dass man in die Auswahl kommt. „Sonst bist du weg vom Fenster. Hier in Deutschland hat es bei einigen über den Weg geklappt, sich kontinuierlich step by step zu verbessern und selbst mit 23 oder 24 noch einen großen Sprung zu machen“, lobte Boll die Kollegen.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort
Olympia maxi
Nach European Championships in München Olympia maxi