Autistischer Sohn und Vater suchen Lieblingsverein „Maskottchen sind bei mir unten durch“

Düsseldorf · Jason ist 14 Jahre alt und Autist. Zusammen mit seinem Vater reist er seit Jahren um die Welt, um seinen Lieblings-Fußballklub zu finden. Im Interview erklären die beiden, wieso die schönste Nebensache der Welt tatsächlich zur Nebensache wird.

 Mirco von Juterczenka und sein Sohn Jason.

Mirco von Juterczenka und sein Sohn Jason.

Foto: Sabrina Nagel

Mirco von Juterczenka hat sich weit aus dem Fenster gelehnt. Denn er hat seinem Sohn Jason zwei Versprechen gegeben. Eines lautet, sich mit ihm auf die Suche nach einem Lieblingsverein zu begeben. Dieses Versprechen hat die beiden bereits durch halb Europa geführt. „Bald könnte es holprig werden“, sagt von Juterczenka. Denn das zweite Versprechen besagt, dass Jason eine Dauerkarte für seinen hypothetischen Lieblingsklub erhält. Das kann Eintracht Frankfurt sein. Aber auch Guangzhou Evergrande in China. Das Versprechen als solches kann von Juterczenka nicht mehr zurückziehen. In der Welt der Juterczenkas sind Versprechen ein Heiligtum.

Als Jason vier war, haben die Ärzte Autismus bei ihm diagnostiziert, Asperger-Syndrom, eine genetisch bedingte Entwicklungsstörung. Er ist nicht krank, sein Gehirn ist nur einfach etwas anders verdrahtet. „In meinem Gehirn“, sagt Jason, „ist manchmal Krieg, es schießen da so viele Gedanken durcheinander.“ Es fällt ihm leicht, sich Detailwissen zu wissenschaftlichen Vorgängen in kürzester Zeit anzulesen, zu verstehen und zu erklären. Es ist ihm aber unmöglich, jemandem die Hand zu geben. Ein Interview mit den Wochenendrebellen, das sowohl zum Schmunzeln als auch zum Nachdenken anregt.

Jason, was passiert, wenn wir dich jetzt umarmen?

Jason Ich würde reflexartig zurückweichen und möglicherweise aggressiv reagieren. Aber das passiert mir nicht. Dafür ist mein Leben zu gut abgestimmt.

Im Stadion ist das aber alles etwas unberechenbarer. Gab es schon Zwischenfälle?

Jason Auf der Südtribüne in Dortmund, da ging es etwas härter zu. Die Fans sind gesprungen und haben mich dabei berührt. Da habe ich angefangen, um mich zu treten. Dann hat uns ein Ordner aus der Menge befreit und ich durfte mich in den Notausgang setzen.

Kannst du akzeptieren, wenn sich Fans vor lauter Freude in die Arme fallen?

Jason Umarmungen zwischen anderen sind mir egal. Bei Bierduschen finde ich es recourcentechnisch verwerflich.

Ihr seid nun seit knapp acht Jahren auf der Suche nach einem passenden Klub für dich. Wie nah warst du bereits dran, einen Lieblingsverein zu finden?

Jason So läuft meine Suche gar nicht. Ich habe einen Kriterienkatalog – und wenn alle Kriterien erfüllt sind, dann habe ich einen Lieblingsverein. Der Verein kann sogar noch Extraleistungen erfüllen, aber wenn ein Hauptkriterium nicht erfüllt ist, kann er nicht mein Lieblingsverein werden.

Dein Papa ist glühender Fortuna-Fan? Was stört dich an Fortuna?

Jason Sie haben einen Kreis vor dem Anstoß gemacht.

Und Maskottchen findest du auch ätzend?

Jason Ja. Das ist wohl eine traumatische Erinnerung. In Berlin wollte mich Herthinho (Bär-Maskottchen von Hertha BSC, Anm. d. Red.) mal umarmen. Seitdem sind Maskottchen unten durch.

Realisierst du, welchen Aufwand ihr beide betreibt? Was dein Papa für dich opfert?

Jason Naja, aber er hat es mir ja damals versprochen. Und dann muss man auch nicht permanent dafür gehuldigt werden. Er ist halt selbst Schuld, weil er es versprochen hat.

Mirco Deshalb verspreche ich mittlerweile auch nicht mehr so viel (lacht).

Kann man solche Ausflüge als Vater überhaupt genießen?

Mirco Das kommt drauf an. Wenn wir nach Dortmund fahren, verspüre ich weniger Vorfreude. Vor allem deshalb, weil durch die Menschenmassen einige Probleme einhergehen, die gelöst werden müssen. Da fährt man dann schon mit einigen Sorgen im Gepäck hin. Bei kleineren Vereinen ist das anders. Da findet man immer Plätze im Stadion, wo man genug Freiraum hat und das Spiel dann auch genießen kann.

Müssen es immer Stehplätze sein?

Jason Nein, wir wurden auch mal in eine VIP-Loge eingeladen. Das war in Bremen. Das war wirklich skurril. Aber die Geschichte erzählt eigentlich immer Papsi.

Mirco Heute darfst du sie mal erzählen.

Jason Nein. Dadurch würden wir unseren Ablauf verändern.

Wir sind begeistert, wie choreographiert das bei euch abläuft.

Mirco (lacht) Stimmt. Also wir wurden von einem TV-Sender zu einem Werder-Spiel eingeladen. Die wollten Jason unbedingt zum Werder-Fan machen und haben sich auch viel Mühe gegeben. Wir haben unter anderem den Präsidenten kennengelernt. Und den Greenkeeper.

Jason Das war echt interessant.

Mirco Der Greenkeeper hat dann 45 Minuten über die Bioqualität des Samens auf dem Rasen philosophiert. Ich stand da nur und hatte Fragezeichen im Gesicht, Jason hat sich dafür total begeistert.

Wie ging es weiter?

Mirco Die haben wirklich ganz groß aufgefahren und wollten Jason unbedingt von Werder überzeugen. Und dann kam das Spiel. Kein Maskottchen, die Fans verhielten sich gut – Werder könnte wirklich DER Verein sein, dachte ich.

Was passierte dann?

Mirco Dann hielt die Kamera auf uns. Und genau in diesem Moment machte die Mannschaft unten einen Kreis. Und das war’s dann. Werder konnte nicht mehr Jasons Mannschaft werden. Das Ende vom Lied war, dass wir eher weniger Beitragszeit in der anschließenden Doku bekamen (lacht).

Gibt es denn eine Ligengrenze? Also beispielsweise nur Vereine der ersten vier Spielklassen?

Mirco Mittlerweile nicht mehr. Wir sind da total offen und neugierig. Ohne Jason versprochen zu haben, uns alle Vereine anzuschauen.

Jason Doch. Wir müssen uns alle ansehen.

Mirco Ich habe aber nur versprochen, dass wir solange unterwegs sind, bis du einen Verein gefunden hast.

Vielleicht sammelt Jason auch einfach Ausschlusskriterien, damit die Suche weitergeht.

Mirco Das ist gut möglich (lacht).

Jason Auf keinen Fall. Wenn ein Verein alle Kriterien erfüllt, dann ist das unumstößlich. Allerdings denke ich momentan darüber nach, die Kriterien leicht anzupassen.

Waren alle Ausschlusskriterien von Beginn an da oder sind sie dir nach und nach eingefallen?

Jason Von Beginn an.

Mirco Wirklich? Das bezweifle ich aber.

Jason Doch. Den Kriterienkatalog in der jetzigen Form gab es von Beginn an.

Ist der geheim?

Jason Nein, wir reden da oft drüber. Alle Regeln gab es eigentlich schon immer. Aber ich überlege noch, welche hinzuzufügen.

Mirco (lacht) Ich freue mich jetzt schon drauf.

Wie ist es als Erziehungsberechtigter...

Jason ... bei uns in der Familie gibt es keine Erziehungsberechtigten.

Rein juristisch gesehen schon.

Jason Nein. Ich habe das bereits juristisch entkräftet. Wir sind zu viert, jeder hat also 25 Prozent Mitbestimmungsrecht. Das läuft dann meistens so ab: Ich vertrete eine radikale Meinung und die anderen manifestieren sich durch Abweichung.

Mirco Wir hören uns dennoch die hypothetische Fragestellung an, Jason.

Danke. Also rein hypothetisch gesehen, könnte in eurer Familie ja ein klassisches Rollenbild existieren, bestehend aus Vater, Mutter, Sohn und Tochter. Und da haben die Eltern oftmals etwas mehr Stimmrecht als die Kinder. Kommt man da manchmal nicht auf den Gedanken zu sagen: „Bis hierhin und nicht weiter.“ Sei es aufgrund der hohen Kosten oder des hohen Aufwandes?

Mirco Grundsätzlich ist das eine berechtigte Frage. Aber ich habe Jason es nun einmal versprochen. Versprechen sind in unserer Familie ein absolutes Heiligtum. Vor allem sind sie bedingt durch Jasons Autismus immens wichtig.

Wieso?

Mirco Wir müssen uns Jasons Gedanken anhören und einordnen. Was bedeutet es, wenn er uns sagt, dass er mit einem spitzen Gegenstand geschnitten wurde? War es aus Versehen mit einem Blatt Papier oder mit einer riesigen Schere? Gerade was die schulische Situation angeht, haben wir enorm viele Dinge dadurch lösen können, indem wir schnell zum Kern des Problems vorgestoßen sind. Das ist uns vor allem wegen der Versprechen gelungen.

Also seid ihr solange unterwegs bis Jason einen Verein gefunden hat?

Beide Ja!

Sie haben Jason auch versprochen, die Welt ein bisschen besser zu machen. Wie versucht ihr das?

Jason Die einzige Anforderung ist eigentlich, dass es konkret messbar sein muss.

Mirco Wir haben uns entschieden, uns für die Neven-Subotic-Stiftung zu engagieren. Wir machen es so, dass wir für die Lesungen, die wir halten, keinen Eintritt nehmen, sondern vor Ort Spenden sammeln. Dann haben wir auf den ersten beiden Lesungen 180 Euro gesammelt. Damit war das Thema für mich gegessen.

Jason Zum Glück war ich auch noch da.

Was ist denn passiert?

Mirco Jason hatte in Erfahrung gebracht, dass man circa 10.000 Euro braucht, um in Afrika einen Brunnen zu finanzieren. Und dann hat Jason kurzerhand bekannt gegeben, dass wir solange auf Lesereise sind, bis wir das Geld beisammen haben.

Mittlerweile seid ihr bei fast 26.000 Euro. Damit kann man mehr als einen Brunnen bauen.

Mirco Ja, aber Jason hat zwischenzeitlich schon erhöht (lacht). Nun müssen dort auch geschlechtergetrennte sanitäre Anlagen gebaut werden, damit sowohl die Jungs als auch die Mädchen zur Schule gehen können.

Was wäre, wenn deine Schwester beantragt, dass ihr die Suche nach Vereinen aufgebt und zu Hause bleibt?

Jason Dagegen habe ich mich natürlich geschützt. Solche Entscheidungen dürfen nur dann getroffen werden, wenn alle vier Personen dafür stimmen. Ich könnte also immer die Notbremse ziehen. Das hat aber auch Nachteile.

Welche?

Jason Ich habe zuletzt beantragt, dass Verstöße gegen das Grundgesetz mit Freiheitsstrafe geahndet werden. Das wurde komischerweise von Papsi abgelehnt.

Mirco Ich konnte nicht zustimmen, ich muss ja noch arbeiten (lacht).

Sie gehen arbeiten, Sie gehen jedes Wochenende mit Jason auf Reisen. Fühlt sich Ihre Tochter da nicht vernachlässigt?

Mirco Wenn es bei unserem Unterfangen ein Hauptproblem gibt, dann ist es sicherlich die fehlende Bindung zu meiner Tochter.

Jason Ich habe mich damit bereits eindringlich beschäftigt, sehe aber auch keine Lösung.

Vielleicht kannst du ja einen Kompromiss eingehen und nur noch alle zwei Wochen auf Reisen gehen.

Jason Aber das wäre ja für mich ein absolutes Negativgeschäft. Ich bin momentan in einer idealen Situation. Es wäre also kein Kompromiss.

Bist du bereits von fremden Leuten angesprochen worden, weil man dich als Jason von den Wochenendrebellen erkannt hat?

Jason Das ist mir tatsächlich schon zweimal passiert.

Wie hat sich das angefühlt?

Jason Also ich finde, das hätte mir eigentlich schon öfter passieren müssen. Wenn ich mir ansehe, was heutzutage ausreicht, um berühmt zu werden und welche Leute in Folge dessen bereits berühmt sind – das entbehrt doch jedweder Logik.

Was war das Erlebnis, das euch am meisten in Erinnerung geblieben ist?

Mirco Zu Beginn unserer Reise dachte ich noch, dass der Erfolg für Jason eine Rolle spielen könnte. Und da ich ihn ja von Fortuna überzeugen wollte, mussten wir zu einem Spiel fahren, was sie sicher gewinnen. Das war bei Fortuna in den vergangenen Jahren ja eher schwierig vorauszuplanen. Also bin ich mit ihm in der Winterpause zum SSV Strümp gefahren, wo Fortuna ein Testspiel hatte.

Jason Du hattest mir erzählt, es sei eine Art Weltpokalfinale.

Mirco Richtig, nur auf etwas lokalerer Ebene (lacht). Ich hatte gehofft, dass Jason durch die Nähe zu den Profis eine Bindung herstellen würde. Nun muss man wissen, dass Jason, wenn er aufgeregt ist, seine Hände zusammenführt und leicht verkrampft. Sein Opa hat das immer mit Holzhacken verglichen. Den Vergleich fand Jason immer toll. Deshalb hat er anschließend immer, wenn er aufgeregt war, die Geste zum Holzhacken gemacht und zusätzlich noch laut ‚Holzhacken‘ gerufen. Wir sind dann also zu Michael Rensing hin, in der Hoffnung, dass Jason ein paar Sätze mit ihm wechseln könnte. Und plötzlich fängt Jason, aufgeregt wie er war, laut an zu schreien: ‚Holzhacken, Holzhacken‘. Sie können sich gar nicht die Gesichter der Fortuna-Profis vorstellen. Nach diesem Tag habe ich meine Bemühungen, Jason für Fortuna zu begeistern, mehr oder weniger eingestellt.

Gibt es Situationen, in denen Ihnen das Verhalten Ihres Sohnes unangenehm ist?

Mirco Die gab es früher zuhauf, mittlerweile aber nicht mehr. Ich bin da komplett abgehärtet. Ich versuche vielmehr, Jason im Nachhinein darauf hinzuweisen, was mich an dieser Situation gestört hat.

Reflektierst du das, Jason?

Jason Meistens habe ich in diesen Situationen gar keine andere Möglichkeit, mich anders zu verhalten. Deshalb ist die Chance auf Besserung gering.

Was war dein Highlight in den vergangenen Jahren?

Jason Wir sind in der Nacht mit dem Zug von Freiburg nach St. Pauli gefahren. Als wir ankamen, musste ich ganz dringend auf Toilette. Dort gab es aber keine Sitzklos. Und ich gehe nur auf Sitzklos. Dort gab es nur Rinnen. Das ging gar nicht. Dann haben wir so lang diskutiert, bis ich gesagt habe, dass wir entweder ein Sitzklo finden, oder ich mir in die Hose mache. Papsi hat sich dann an die Momente in der Straßenbahn erinnert, in denen er mir, wenn ich keinen Sitzplatz hatte, mit seinem Körper einen Stuhl gebaut hat. Er hat mir dann also auf der Toilette ein Sitzklo gebaut, damit ich in die Rinne pinkeln konnte. Das war ziemlich unhygienisch, immerhin waren seine Hände zentimeterweit im Urin anderer Menschen. Die Leute die das gesehen haben, haben uns fassungslos angeguckt. Aber ich hatte ein Sitzklo.

Empfindest du in solchen Momenten Dankbarkeit für deinen Papa?

Jason Naja, man muss das rational sehen. Wenn er es nicht getan hätte, hätte ich mir in die Hose gemacht. Und das wäre sicherlich auch nicht in seinem Interesse gewesen.

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