Charkow freut sich auf Deutschland

Zwei ihrer drei Gruppenspiele trägt die deutsche Nationalmannschaft in der Ostukraine aus. Die Stadt war zuletzt vor allem in den Schlagzeilen, weil die ehemalige Regierungschefin Julia Timoschenko dort in Haft sitzt.

Charkow Tiefblau leuchten die Reihen der nagelneuen Klappsitze auf den Tribünen. Tiefblau sind auch die Stelzen für das neue Dach, das alle 38 633 Plätze überspannt. Unter dem satten grünen Rasen auf dem Spielfeld arbeitet ein hochmodernes Drainage- und Heizsystem aus England. Und hoch in der Luft schwebt an Drahtseilen die "Spidercam" – eine spezielle Kamera, die Spielszenen aus der Luft aufnimmt. Das Metalist-Stadion in Charkow ist bereit für die Fußball-EM 2012. "Wir haben 70 Millionen Euro für die Rekonstruktion ausgegeben", sagt stolz Sergej Rodionow, Manager des Vereins Metalist Charkow.

Die Ukraine wird die EM gemeinsam mit Polen ausrichten. Doch die ehemalige Sowjetrepublik hat ein Imageproblem. Die Oppositionsführerin Julia Timoschenko sitzt in Charkow im Gefängnis – nur wenige Kilometer vom Stadion entfernt. Die EU fordert ihre Freilassung, einige westeuropäische Politiker wollen die Spiele in der Ukraine boykottieren. Damit nicht genug: Gerüchte über Wucherpreise und eine unklare Sicherheitslage schrecken viele Fans ab.

Sergej Rodionow versteht den Wirbel nicht. "Niemand aus unserem Verein hat sich je in die Politik eingemischt", sagt er. Und zeigt stolz die geräumige Kabine, die die deutsche Nationalmannschaft bei ihren beiden Begegnungen dort beziehen wird. Bequeme Ledersessel für die Spieler, eine Massagebank, sogar eine Schuhputz-Anlage gibt es. "Dabei war Charkow zunächst erst in der Ersatzliste für die Austragungsorte der EM", erzählt Sergej Rodionow, "aber wir haben uns viel Mühe gegeben."

Dahinter steckt ein Name: Aleksandr Jaroslawski. Der 52-jährige Oligarch gilt als "König von Charkow". Er ist Vorsitzender des Klubs Metalist und Chef der Firma DCH, die den Stadionumbau koordiniert. Rund 70 Prozent der Kosten hat der Staat übernommen, 30 Prozent bestritt Jaroslawski. Der Millionär finanzierte auch die Rekonstruktion des alten Flughafens und den Bau eines neuen Terminals, Gesamtkosten: 50 Millionen Euro.

Charkow ist mit 1,4 Millionen Einwohnern so groß wie München. Die Stadt hat schöne Jugendstilbauten, die immer noch auf die Restaurierung warten. Doch vieles ist sehr provinziell. Selbst am Hauptbahnhof kann man Bahnfahrkarten nicht mit Kreditkarte bezahlen, in den Läden ist ständig kein Wechselgeld da, ein Restaurantmanager reagiert überfordert, als der Gast ein versalzenes Essen reklamiert.

In der ostukrainischen Stadt hatte man bisher wenig Kontakt mit westlichen Touristen. Entsprechend groß sind bei manchen die Vorbehalte. "Ich habe Angst vor den holländischen Fans", sagt Marina, Mutter einer 17-jährigen Tochter, "die bringen doch bestimmt Marihuana mit!" Im Westen wiederum hat die Ukraine ein Negativ-Image. Schuld daran seien die unfähigen und korrupten Politiker – diesen Vorwurf hört man in Charkow immer wieder. So sei vieles von dem Geld, das für den Ausbau von Straßen und andere Projekte veranschlagt wurde, in dunklen Kanälen versickert. "Ich habe mich so auf die EM gefreut, aber jetzt ist es mir nur noch peinlich für die Obrigkeit" sagt der Sportreporter Vitali Labskir frustriert.

Er nennt das Beispiel der neuen Straße zum Flughafen. Charkows Bürgermeister Gennadi Kernes, ein Mann mit krimineller Vergangenheit, sorgte dafür, dass seine eigene Asphaltfirma den Auftrag für den Bau bekam. Das rief den mächtigen Oligarchen-Clan aus Donezk auf den Plan. Der Bürgermeister verlor den Mafiakrieg, musste seine Firma abgeben. "Ergebnis: Die Flughafenstraße ist jetzt nur mit der halben Asphaltschicht belegt – dabei bleibt es", erzählt Labskir. Was ihn besonders wurmt: Keine der ausländischen Mannschaften, die in der Ukraine spielen, wird in der Stadt übernachten. Zu teuer, zu rückständig, zu unsicher – so die Klischees.

Heftige Mauscheleien gab es wohl auch bei der Fan-Unterbringung. Ukrainische Hoteliers witterten die Chance ihres Lebens – und schossen maßlos über das Ziel hinaus. Horrormeldungen über Hotelraten von 500 bis 700 Euro pro Nacht verschreckten die Fans. "Das waren nur ein paar VIP-Hotels, da sind solche Preise doch normal", sagt Aleksandr Netscheparenko, EM-Beauftragter der Stadtverwaltung.

4400 Hotelbetten ständen in Charkow zur Verfügung, dazu noch 11 000 Plätze in Studentenwohnheimen. Die Hotelauslastung läge wenige Wochen vor der EM erst bei 40 Prozent. Das hat die Hoteliers offenbar zur Räson gebracht. Eine Anfrage in einem Vier-Sterne-Haus ergab: Für ein Zimmer, das regulär 85 Euro kostet, sind während der EM 350 Euro zu bezahlen. Solche Aufschläge sind bei Großevents auch in Westeuropa üblich.

Alle, denen das zuviel ist, sollten sich an die Fan-Initiative von Iwan Wartschenko wenden. "Laskowo Prosimo – Welcome to Ukraine" heißt seine Aktion, bei der Fans umsonst bei ukrainischen Fans übernachten können. "Wir wollen das Negativ-Bild korrigieren", sagt Wartschenko, "die Gäste sollen ukrainische Gastfreundschaft kennenlernen und alles so sehen, wie es in unserem Leben ist."

Mehr als 600 Freiwillige in der ganzen Ukraine haben sich schon über Facebook bei Starchenkos Initiative gemeldet. "Wenn die Leute eine Weile zusammen am Tisch gesessen haben, fallen die sprachlichen Barrieren", sagt Iwan Wartschenko.

Der 37-Jährige sitzt für die oppositionelle Partei von Julia Timoschenko im Charkow Gebietsparlament. Doch mit Blick auf das ungeschickte Agieren von Staatspräsident Viktor Janukowitsch bleibt ihm eine Sorge: "Ich weiß nicht, welche Dummheiten sich unsere Politiker noch einfallen lassen, damit man uns die EM-Spiele wegnimmt."

(RP)
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