Euphorie vor EM-Halbfinale Wie das deutsche Team auch den letzten Pessimisten überzeugt hat

Analyse | Berlin · Aus Unruhe wurde Euphorie, aus Skepsis wurde Zuversicht, aus Kritikern wurden Verfechter. Die deutsche Basketball-Nationalmannschaft hat in den vergangenen zwei Wochen unglaubliches geleistet – allen voran Trainer Gordon Herbert.

 Lets rock: Der deutsche Basketball-Bundestrainer Gordon Herbert stand vor dem Turnier in der Kritik. Das hat sich geändert.

Lets rock: Der deutsche Basketball-Bundestrainer Gordon Herbert stand vor dem Turnier in der Kritik. Das hat sich geändert.

Foto: dpa/Soeren Stache

Deutschland steht bei der Basketball-EM im eigenen Land im Halbfinale. Zum ersten Mal seit 17 Jahren winkt eine Medaille bei einem großen Turnier – eine Sensation, die vor dem Turnier nur wenige für realistisch hielten. Zu groß war die Unruhe, zu viele Rückschläge musste das Team von Bundestrainer Gordon Herbert verkraften, zu groß schien die Konkurrenz.

Um zu verstehen, was in den letzten Wochen mit dem deutschen Basketball und seiner Nationalmannschaft passiert ist, lohnt es sich, die Geschichte in fünf Phasen einzuteilen.

Unruhe:

Schon vor Beginn der EM-Vorbereitung hatten zahlreiche vermeintliche Leistungsträger dem Bundestrainer abgesagt: Maximilian Kleber (Dallas), Isaiah Hartenstein (New York) oder auch Tibor Pleiß (Istanbul) wollten den Sommer nutzen, um körperliche Beschwerden zu behandeln und sich auf ihre Klubs zu fokussieren. Der eigentlich immer ruhige, analytische Herbert reagierte auf diese Absagen pikiert – zumindest lassen gleich mehrere Interview-Aussagen dies vermuten. „Bitte respektieren Sie, dass ich überhaupt nicht über sie reden werde“, antwortete der 63-Jährige beispielsweise, vom „Kicker“ auf das Fehlen von Kleber und Hartenstein angesprochen. „Ich spreche nur über Spieler, die sich zum Nationalteam bekannt haben und sich aufopfern, für ihr Land zu spielen“, war eine andere dünnhäutig wirkende Aussage gegenüber „Spox“. Das kam nicht gut an. Nicht bei den Fans, nicht bei manchem (Ex-)Spieler.

Und dann, Mitte August, kam es zum großen Kommunikationsknall: Der langjährige Kapitän Robin Benzing wurde von Herbert aussortiert. Nach 14 Jahren im Nationalteam wollte Benzing (33) bei der Heim-EM seine Karriere im deutschen Jersey ausklingen lassen. „Als elfter oder zwölfter Mann, um meine Erfahrung einzubringen, um von der Bank zu helfen“, erzählte Benzing später im Podcast von Ex-Nationalmannschaftskumpel Bastian Doreth. Doch nach den ersten beiden Vorbereitungsspielen habe Herbert ihn ins Büro gebeten. Was folgte beschrieb Benzing: „Ich wurde zu den Coaches reingerufen und dann wurde mir gesagt: ‚Du bist nicht dabei.‘ Und das war‘s.“ Weil Wertschätzung und Dankbarkeit für 165 Länderspiele auch in der öffentlichen Kommunikation des Verbands zunächst fehlten, gingen Fans und Medien hart mit der Entscheidung ins Gericht. Von Vorfreude war wenig zu spüren, kein öffentliches Gespräch, kein Interview kam ohne die Themen „Absagen“ und „Benzing“ aus.

Rückschläge:

Herbert betonte in dieser Zeit immer wieder, dass er auf einen Kader setze, der die nächsten drei Jahre einen festen Stamm bilden kann. Das Wort „commitment“ (deutsch: Einsatz/Verpflichtung) nutzte der Kanadier dabei schon fast inflationär. Trotz aller Absagen hatte Herbert einen guten Mix aus NBA-Akteuren und europäisch erprobten Spielern zusammengestellt. Das Problem im Laufe der Vorbereitung: Gleich mehrere Schlüsselspieler, darunter Kapitän Dennis Schröder (zuletzt Houston), Defensiv-Anker Isaac Bonga (zuletzt Toronto), Korb-Beschützer Daniel Theis (Indiana) oder der leidenschaftliche, wurfstarke Moritz Wagner (Orlando), plagten sich mit Verletzungen. Immer wieder fielen Spieler für Test- und WM-Qualifikationsspiele und/oder Trainingseinheiten aus. Bei Bonga und Wagner führten die (Knöchel-)Verletzungen sogar zu Turnier-Absagen.

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Die Deutschen in der NBA

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Foto: AP/David Zalubowski

Skeptische Beobachter, Medien und Fans hatten nun ein drittes Gesprächsthema. Zumal das Team ohne den verletzten Dennis Schröder im „Supercup“, einem Testspiel-Turnier, gegen EM-Mitfavorit Serbien mit 56:83 unterging. An das von Coach Herbert offensiv formulierte Ziel („Wir wollen auf das Podium, wir wollen eine Medaille“) glaubte zu diesem Zeitpunkt kaum jemand. Das Vorrunden-Aus in einer Hammer-Gruppe mit Europameister Slowenien, den stets mitfavorisierten Franzosen, Basketball-Nation Litauen, den unangenehmen Bosniern und Ungarn schien fast realistischer.

Zuversicht:

Es brauchte dringend gute Nachrichten und sportliche Erfolgserlebnisse. Es brauchte Zuversicht und Optimismus. Nur wenige Tage nach dem „Supercup“-Desaster meldete sich erst Schröder zurück, sogleich wurde die EM-Generalprobe gegen Slowenien eindrucksvoll mit 90:71 gewonnen und pünktlich zum Turnierstart war auch Daniel Theis wieder mit dabei. Zuversicht machte sich breit, Vorfreude war zu spüren, als der Verband zur Turniereröffnung eine Zeremonie zu Ehren Dirk Nowitzkis ankündigte und begeistert feierten schließlich über 18.000 Fans in der ausverkauften Köln-Arena den überraschenden deutschen Auftaktsieg gegen die namenhaft besetzten Franzosen (76:63). Es folgte ein wichtiger Arbeitssieg über Bosnien (92:82), der sogleich ein Vorrunden-Aus beinah unmöglich machte. Der erste Druck war nun weg, die Zuversicht zurück.

Euphorie:

Die Anzeichen, dass dieses Turnier ein besonderes für den deutschen Basketball werden könnte, verdichteten sich dann nach Gruppenspiel drei gegen Litauen. Alles was Basketball ausmacht, bot dieses Spiel: hochklassige Offensive und Defensive, Intensität, spektakuläre Aktionen und Spannung bis zur letzten Sekunde. Nach doppelter Verlängerung siegte das Herbert-Team mit 109:107, die Köln-Arena glich einem Tollhaus und auch der objektivste Beobachter musste feststellen: Mit diesem Team wächst etwas Großes heran. Jeder Spieler erfüllte seine Rolle hochklassig, das Trainerteam fand Antworten auf Probleme, die Fans in der stets ausverkauften Köln-Arena ließen sich anstecken. Die Stimmung: erstmals euphorisch.

An dieser Wahrnehmung änderte auch eine knappe Niederlage gegen den überragenden Luka Doncic und seine Slowenen nichts (80:88, 36 Punkte von Doncic). „Wenn du selbst einen schwachen Tag erwischst, Luka Doncic so aufdreht und du trotzdem nur mit acht Punkten gegen den Titelverteidiger verlierst, dann ist alles drin“, resümierte Ex-Nationalspieler und TV-Experte Per Günther anschließend zutreffend. Ein letzter, lockerer Sieg zum Gruppenabschluss gegen Ungarn (106:68) in Köln und ein unnötig spannender Achtelfinal-Erfolg gegen Montenegro (85:79) in Berlin führten das deutsche Team zum bisherigen Höhepunkt dieser Europameisterschaft.

Von der Vorbereitung bis zu diesem Zeitpunkt hatten Gordon Herbert und seine Spieler viele richtige Entscheidungen getroffen, agierten von Position eins bis zwölf als Einheit, hatten es verstanden, die Fans für sich und - noch wichtiger - Basketballspiele zu gewinnen. Nun aber wartete Titelfavorit Griechenland mit Giannis Antetokounmpo, dem aktuell wohl besten Spieler der Welt.

Was folgte ging in die deutsche Basketball-Geschichte ein: 107:96 hieß es am Ende für das deutsche Team, ein Ergebnis, das sich knapper liest als es dank einer überragenden zweiten Halbzeit war. Live und vor einem TV-Millionenpublikum auf RTL rastete Kult-Kommentator Frank Buschmann vor Begeisterung aus, in der Berliner Arena taten es ihm 10.000 deutsche Fans nach. Deutschland war plötzlich Basketball-Land. Das hat es lange nicht gegeben.

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Deutschland - Griechenland: die Bilder des Spiels

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Foto: dpa/Soeren Stache

Hoffnung:

Und nun steht die vorerst letzte Phase dieser Geschichte an. Am Freitag wartet Spanien im Halbfinale. Die Spanier stehen zum elften Mal in Folge bei einer EM in der Runde der letzten vier, für Deutschland ist es das erste Mal seit 2005 – und doch wird das Herbert-Team plötzlich als Favorit betrachtet. Denn auch wenn die Spanier erfahren und stark besetzt sind, so spielten die Deutschen bei diesem Turnier bislang den besseren Basketball.

Und das Team sieht sich auf einer Mission: „Es war der Plan, dass wir Basketball wieder auf die Landkarte bringen. Wir haben versucht, Basketball durch unser Spiel populärer in Deutschland zu machen“, sagt Center Johannes Thiemann. Das ist in den vergangenen zwei Wochen gelungen. Für den Bundestrainer steht fest: „Wir erwarten noch mehr. Wir haben ein Ziel und das liegt noch vor uns.“ Und NBA-Center Daniel Theis stellt klar: „Eine Medaille war vor der EM unser Ziel und natürlich wollen wir jetzt Gold.“ Es wäre der zweite EM-Titel für ein deutsches Basketball-Team, 29 Jahre nach dem Erfolg von 1993, auch damals war Deutschland Gastgeber des Turniers. Die Hoffnung auf eine Wiederholung lebt.

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