Schweizerin fühlt sich in neuem Leben wohlMartina Hingis schaut nur noch zu
Paris (rpo). Martina Hingis wirkt entspannt. Früher war das anders. Von Ehrgeiz zerfressen vermieste die Schweizerin sich das Leben und zählte nicht gerade zu den Sympathieträgerinnen der Tour. Das hat sich - wie sich beim Besuch der French Open zeigte - grundlegend geändert.So, wie sie aussieht, macht Martina Hingis ihr neues Leben Spaß. Weiße Bluse, weiße Baumwollhose, die Haare offen und länger als früher - mit entspanntem Lächeln sitzt die ehemals beste Tennisspielerin der Welt im Stade Roland Garros in Paris und berichtet ausnahmsweise über sich selbst. "Ich bin zufrieden mit dem Leben. Ich habe schnell versucht, neue Wege zu gehen, und alles hat geklappt", sagt die 23 Jahre alte Schweizerin, die seit einer Woche für den TV-Sender Eurosport von den French Open berichtet: "Ich habe weniger Stress als früher und kann über das reden, was ich kenne." Fünf Jahre nach dem denkwürdigen French-Open-Finale gegen Steffi Graf am 5. Juni 1999 ist Martina Hingis an die Stätte ihrer schlimmsten Niederlage zurückgekehrt. Damals verschwand die 18-Jährige direkt nach dem Spiel heulend in der Kabine, Mutter und Trainerin Melanie Molitor musste sie überreden, zur Siegerehrung zu kommen. Schmunzeln im RückblickFünf Jahre danach kann Martina Hingis über den beleidigten Teenager von damals schmunzeln. "Am liebsten würde ich das Finale wiederholen, trotzdem ist es eine schöne Erinnerung", sagt die langjährige Nummer eins, die außer Paris alle Grand-Slam-Titel mindestens einmal gewann. "Es war ein historisches Spiel. Der dritte Satz war nicht angenehm, ich war mit den Kräften am Ende. Gegen Steffi war es immer sehr speziell und sehr schwer, vor allem hier. Trotzdem gibt es viel Schlimmeres als ein verlorenes Finale." Nur drei Punkte fehlten Martina Hingis damals zum Triumph. Bei 5:4 im zweiten Satz schlug sie zum Match auf, am Ende siegte Steffi Graf 4:6, 7:5, 6:2 und holte den 22. und letzten Grand-Slam-Titel ihrer Karriere. Danach kam die damals 29-Jährige noch ins Wimbledon-Finale, verlor gegen Lindsay Davenport und trat kurze Zeit später endgültig ab. Nie offiziell zurückgetretenDer Rücktritt von Martina Hingis gestaltete sich etwas komplizierter. Am 20. Mai 2002 ließ sie sich am linken Sprunggelenk operieren, danach kam sie nie wieder richtig auf die Beine. Ihr letztes Spiel bestritt sie am 14. Oktober 2002 in Filderstadt: 3:6, 1:6 gegen Jelena Dementjewa. Sie wollte noch einmal zurück auf die große Bühne, aber der lädierte Fuß hielt dem Leistungssport nicht mehr stand. Einen offiziellen Rücktritt gab es nie, aber etwa vor einem Jahr stand fest, dass Martina Hingis nicht mehr zurückkehren wird. Die Schweizerin ist dennoch eine der größten Tennisspielerinnen aller Zeiten. Als jüngste Spielerin der Geschichte bestieg sie mit 16 Jahren und sechs Monaten am 31. März 1997 den Thron der Nummer eins. Sie gewann 14 Grand Slam-Titel, fünf im Einzel, neun im Doppel, zusammen waren es 76 Turniersiege (40 Einzel, 36 Doppel). Insgesamt 209 Wochen war "Miss Swiss" die Nummer eins, nur Steffi Graf (377), Martina Navratilova (331) und Chris Evert (262) kamen auf mehr. Die Geschichte des Jahrhundert-Talents, das den Vornamen von Martina Navratilova bekam, in Kosice aufwuchs und im Alter von acht Jahren mit Mutter Melanie in die Schweiz auswanderte, blieb unvollendet, dennoch weint Martina Hingis der Vergangenheit keine Träne nach. Sie hat ausgesorgt und genug zu tun. Allein an Preisgeld verdiente sie 18,34 Millionen Dollar. Leben im alten Haus von Kalle RiedleHeute lebt Martina Hingis am schönen Zürichsee, zusammen mit ihrem Freund Stephan, einem Skilehrer aus St. Moritz, der im Sommer am Bodensee eine Wasserski-Schule samt Restaurant betreibt. Erst vor drei Wochen hat das Pärchen das neue Haus vom früheren deutschen Fußball-Nationalspieler Karlheinz Riedle erworben. Die begeisterte Reiterin besitzt drei Pferde, zwei in der Schweiz und eines, das vor kurzem ein Fohlen bekommen hat, in Doha: "Das werde ich hoffentlich bald besuchen." Jeweils 25 Tage im Jahr ist Martina Hingis für ihren langjährigen Ausrüster und ihre Schlägerfirma unterwegs, dazu kommen TV-Engagements für Eurosport oder den australischen Sender Channel 7, für den sie Anfang des Jahres die Australian Open kommentierte. Zusätzlich wirbt sie noch für die berühmteste Schweizer Waschmaschine. Der Spruch, den sie beim Einfüllen der Wäsche aufsagt, passt zu ihr: "Da muss ich nicht so tief in die Knie gehen wie beim Tennis." Martina Hingis hat sich nie gerne gequält, es reichte auch so. "Ein, zwei Mal pro Woche" schwingt sie den Schläger, und wenn sie zuschaut, kribbelt es noch. Die Williams-Schwestern, die Französin Amelie Mauresmo oder die Belgierinnen Justine Henin-Hardenne und Kim Clijsters findet sie gut, ansonsten aber hält sie das Niveau im Damentennis für nicht so hervorragend. Schade, dass der lädierte Fuß einen direkten Vergleich nicht mehr zulässt.