Interview mit Sportwissenschaftler Daniel Memmert Dem Ballgefühl auf der Spur

Düsseldorf · Was ist eigentlich Ballgefühl? Und ist das angeboren oder kann man das lernen? Annäherungsversuch an ein Mysterium.

 Zwei Sportler jonglieren vor dem Fußballmuseum in Dortmund mit Bällen.

Zwei Sportler jonglieren vor dem Fußballmuseum in Dortmund mit Bällen.

Foto: Grafik: Ferl/dpa, mjh htf

Eines der schönsten Zitate über Badminton ist von Martin Knupp und steht im Yonex-Jahrbuch von 1986. Er schreibt: „Ein Badmintonspieler sollte verfügen über die Ausdauer eines Marathonläufers, die Schnelligkeit eines Sprinters, die Sprungkraft eines Hochspringers, die Armkraft eines Speerwerfers, die Schlagstärke eines Schmiedes, die Gewandtheit einer Artistin (...) und die Intuition eines Künstlers. Diese Charakterisierung führt dorthin, wo die Ballsportart aufhört und die Romantik beginnt. Am liebsten bewundert der Fan: das Ballgefühl der Sportler.

Blitzt es auf, ist es ja auch unglaublich faszinierend. Wenn Weltfußballer Lionel Messi mit dem Spielgerät eins wird, Basketballstar Dirk Nowitzki das Handgelenk abklappt und perfekte Würfe wie am Fließband fabriziert oder Roger Federer mit dem Tennisschläger Präzisionsarbeit leistet. Wie geht so etwas? Der Duden will sich nicht festlegen: „Ballgefühl ist die besondere Fähigkeit, Veranlagung eines Spielers, geschickt mit dem Ball umzugehen.“ Was denn nun, Fähigkeit oder Veranlagung? Sportwissenschaftler sind da weiter. Professor Daniel Memmert von der Deutschen Sporthochschule jedenfalls.

Herr Memmert, ist Ballgefühl angeboren oder trainierbar?

Memmert Es gibt dazu meines Wissens bislang keine Studien, aber beides ist wohl von Bedeutung. Aus der Differentiellen Psychologie wissen wir, dass Konstrukte wie Angst wohl zu ungefähr je 50 Prozent auf Umwelteinflüssen und 50 Prozent auf den Genen beruhen. In der Sportwissenschaft gilt für Kraft und Ausdauer ein ähnliches Verhältnis.

Das heißt, selbst Lionel Messi oder Timo Boll wurden allein durch Training derart gut?

Memmert Das kann man auf jeden Fall so sagen. Intensives Training ist von überragender Bedeutung, dabei spielen natürlich auch Faktoren wie Fleiß, Ehrgeiz und Wille eine große Rolle. Sie gelten als wichtige Talentmerkmale.

Ist ein Unterschied beim Ballgefühl zwischen Frauen und Männern belegt?

Memmert Studien zeigen, dass vor Eintritt in die Pubertät Mädchen bessere koordinative Fähigkeiten besitzen. Das Wort Ballgefühl existiert aber nur im Volksmund. In der Sportwissenschaft sprechen wir von gut ausgebildeten koordinativen Fähigkeiten.

Memmerts Worte machen deutlich, dass die Bezeichnung Ballgefühl also gern gewählt, aber unexakt ist. Es geht dem Betrachter wohl darum, etwas schwer Greifbares zu beschreiben. Mit Ballgefühl ist demnach das Bewegungsempfinden des Sportlers gemeint, der versucht, Kontrolle über den Ball zu erlangen. Oft sehen Athleten aus Sportarten ohne Ball eher schlecht aus, wenn sie mit dem Rund konfrontiert werden. Per se zu sagen, Turner oder Leichtathleten hätten weniger Ballgefühl, ist aber schlichtweg falsch. Spitzenturner Marcel Nguyen (31) sagt dazu: „Ich bin nicht der begnadetste Fußballer, aber ein bisschen hochhalten geht schon. Wir spielen recht oft zum Aufwärmen ein wenig Fußball.“ Der Ball war Nguyen nie fremd, „letztlich habe ich aber mehr Leidenschaft für das Turnen entwickelt und habe dort sicher auch mehr Talent.“ Fakt ist aber: Fähigkeiten und Fertigkeiten verkümmern mit der Zeit, wenn sie nicht trainiert werden.

Was bringt es, wenn Nicht-Ballsportler zum Ball greifen?

Memmert Es gibt aktuelle Studien von Kollegen: Viele international erfolgreiche Fußballprofis beispielsweise geben an, dass sie in ihrer Jugend intensiv eine Zweitsportart ausgeübt haben. Je breiter Profis als Kinder trainiert haben, desto besser.

Was müssen Kinder lernen?

Memmert Das Rüstzeug sind sportartübergreifende Kompetenzen wie Motorik-, Kognitions- und Koordinationsbausteine. Viele Ansätze im Sport, wie etwa unser Lehrplan „Abenteuer Bewegung“, beinhalten ein Transferkonzept. Kinder lernen Kompetenzen, die sie in verschiedenen Sportarten einsetzen können. Später lernen sie dann viel schneller spezifische Techniken.

Wenn wir beim Volksmundbegriff Ballgefühl bleiben: Sind Hockeyspieler die Könige des Ballgefühls?

Memmert Interpretiert man es so, kann man das sagen. Je weiter der Ball weg ist, desto schwieriger wird es. Ich würde auch andersherum denken: Kindern geben wir den Ball zur Gewöhnung erst in die Hand, dann an den Fuß, dann kommt ein Schläger hinzu.

Ist Ballsport also anspruchsvoller als Disziplinen ohne das Rund?

Memmert Das klingt durchaus logisch. Weil ich beim Sprinten kein externes Objekt und keine Gegenspieler habe, ist der Organisationsdruck geringer. Wenn ich mich nur auf mich konzentrieren muss, ist das leichter zu organisieren.

Eine international anerkannte Skala, die Ballgefühl messbar macht, gibt es nicht. Ohnehin ist der Begriff relativ. In den Sportspielen ist es stark abhängig von äußeren Faktoren wie Form und Größe der Spielgeräte. Ein Fußball hat laut Fifa-Regel einen Durchmesser von 68 bis 70 Zentimetern und wiegt 400 Gramm. Ein Drittel dessen sind Hockeybälle, mit einem Umfang von etwa 23 Zentimetern und rund 160 Gramm Gewicht. In Handballspielen kommt neben dem Training dann auch noch die große Bedeutung der Hand im Leben des Menschen zum Tragen. Das Gefühl dafür ist deshalb schneller erlernbar als im Fußball. Schlaggeräte setzen noch mehr voraus. Die Übertragung des Ballgefühls auf den Schläger setzt mehr motorische, optische, räumliche und zeitliche Koordination voraus.

Der Präsident des Deutschen Hockey-Bundes weiß um die Komplexität, die Ballkontrolle mit sich bringt. Wolfgang Hillmann weiß aber auch: „Wenn Ballgefühl bei Kindern in hohem Maße vorhanden ist, sieht man das beim Hockey schon früh.“ Es zeige sich im gesamten Bewegungsablauf mit Schläger und Ball, am besten unter hoher Geschwindigkeit. Übungen, mit denen Hockeyspieler die Ballkontrolle schulen, seien fester Bestandteil des Kinder- und des ProfiTrainings. Dazu gehöre der Umgang mit unterschiedlich großen und schweren Bällen sowie das gefühlvolle Schlenzen.

Es bleibt die Erkenntnis: Ballgefühl ist nur ein vereinfachender Begriff für weit komplexere Abläufe. Auch Knupps Badminton-Zitat hat einen Nachsatz. Der erklärt, warum es Menschen gibt, die öfter hochhalten können als Messi oder präzisere Kunstschläge haben als Federer, die aber keine Stars sind. Knupp: „Weil diese Eigenschaften so selten in einer Person versammelt sind, gibt es so wenig gute Badmintonspieler.“

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