Rugby Der Tag, an dem das deutsche Rugby erwachsen wurde
Köln · In letzter Sekunde hat das deutsche Rugby-Nationalteam die Klasse gehalten – und viele neue Fans gewonnen. Eindrücke von einem historischen Spiel.
Am Anfang war die Überforderung, und die Überforderung war gut, denn es war die Überforderung eines Häufleins Verkehrspolizisten, die zum samstäglichen Rugbyspiel zwischen Deutschland und Spanien ein etwa ebenso kleines Häuflein Fans erwartet hatten. Tatsächlich kamen, sahen, und falschparkten mehr als 6.000 Menschen aus ganz Deutschland: Sämtliche Straßenränder, Feld- und Kleingartenanlagen-Zugangswege rund um das Stadion des Fußball-Regionalligisten Viktoria Köln waren zugeparkt.
Am Ende war die Enttäuschung, und auch die Enttäuschung war gut, denn es war die Enttäuschung der deutschen Rugbygemeinde darüber, dass es nur zu einem Remis gereicht hatte — gegen Spanien, das das Hinspiel noch überdeutlich mit 48:16 für sich entschieden hatte.
Dazwischen lagen 80 Minuten Rugby vom Feinsten — schnell, hart, zugänglich, leicht zu lieben.
Denis Frank (28) schaut nur mit einem Auge auf das Fußballfeld, dessen Tore den H-förmigen Stangen weichen mussten. Nicht, weil ihn das Spiel nicht interessieren würde. Der bärtige Hüne (1,95 Meter, 109 Kilo) mit dem entwaffnenden Grinsen und dem Schraubstockhändedruck stand bloß gerade noch selbst auf dem Feld, für die NRW-Auswahl der Variante mit sieben statt 15 Spielern pro Team. Eine riesige violette Beule schwillt sein rechtes Auge komplett zu, egal wie häufig er auch Eis dagegendrückt. "Nix Wildes", winkt er ab, "kein Bruch! Gebrochen habe ich mir noch nie was." Frank rattert seriöse Vergleichsstudien über Verletzungsrisiken herunter. Rugby schneidet verblüffend gut ab. Im Krankenhaus hatte er als Erstes gefragt, ob man ihm den XXL-Bluterguss punktieren, also aufstechen könnte. "Damit ich morgen wieder spielen kann!"
Weil Frank aber jedenfalls für heute außer Gefecht ist, macht er sich nützlich als Edelfan und Erklärer der Regel-Details. Er ist ein unwiderstehlicher Missionar in Sachen Rugby, spielt seit neun Jahren selbst, berichtet als Teilzeit-Reporter darüber, ist geduldig und eloquent. Man könnte ihn alles fragen. Aber man kommt nicht dazu. Keine Zeit. Rugby gucken.
Sport in Reinform, ohne Gedöns. Sport, wie er sein soll
Das Spiel ist rassig wie Fußball-Abstiegskampf, hart wie Handball, taktisch wie American Football, aber dabei flüssig wie Basketball. Die Teams funktionieren wie Maschinen und bewegen sich wie Teile eines großen Organismus. Die Spieler sprinten im einen Moment Haken schlagend nach vorn und schieben einander im nächsten schnaubend vornübergebeugt über die Grasnarbe. Sie tänzeln wie Boxer, reißen einander um wie Ringer und stemmen ihre Kameraden meterhoch in die Luft wie Cheerleader, um Einwürfe abzufangen.
Sobald der Schiedsrichter pfeift, lösen alle ihre Pranken vom Trikot der anderen, halten die Klappe, hören zu. Und wenn der eiförmige Spielball zur Ausführung eines Strafkicks ruht, machen die Zuschauer solange "Psscht"-Laute, bis auch ein Billardspieler, Bogenschütze oder Angler mit der Stille zufrieden wäre. Ein einziger Neuling wagt einen einzigen Pfiff in einer solchen Konzentrationsphase der Spanier — danach ist jedem klar, dass es bei solchen Punkt-Chancen für den Gegner genauso ruhig zu sein hat wie bei eigenen. Im Zweifel eher noch ruhiger.
Rugby ist Sport in Reinform, ohne Gedöns. Sport, wie er sein soll.
Ein Sieg zählt vier Punkte in der Tabelle, ein Unentschieden zwei. Das Besondere: Für eine knappe Niederlage mit sieben oder weniger Zählern Differenz bekommt auch der Verlierer einen Punkt. Verpasst Deutschland den, droht der Abstieg aus der zweithöchsten europäischen Spielklasse ENC-1A ganz akut.
Echte Liebe für das Rugby
Doch als kommt, was kommen muss — Spaniens Führung mit mehr als den alles entscheidenden sieben Punkten — brechen die Deutschen nicht auseinander. Sie legen die Angst vor der eigenen Courage ab, sie kommen Punkt um Punkt zurück. Bis zum Ausgleich. Denis, der Dortmund-Fan, der seine Dauerkarte kaum noch nutzt, spürt echte Liebe. Beim Abpfiff fühlt die deutsche Rugby-Familie die schönste Enttäuschung aller Zeiten. Der Sensationssieg ist verpasst, aber Deutschland darf sich auch im nächsten Jahr mit Georgien, Rumänien, Russland und Spanien messen — den besten Teams des Kontinents unterhalb der unantastbaren "Six Nations" aus England, Frankreich, Irland, Italien, Schottland und Wales.
Deutschland darf auf knappe Niederlagen und weitere Unentschieden hoffen, und eines Tages vielleicht sogar auf eine WM-Teilnahme.
Ob es fair wäre zu sagen, das deutsche Rugby sei mit einem blauen Auge davongekommen wie Denis Frank, darüber ließe sich streiten. Es ist aber auch unerheblich. Was zählt: Es ist noch da. Es lebt. Und es ist erwachsen geworden.