Boll spürt Zeitenwandel "Feuer loderte nicht mehr so"

Bremen/Köln · Timo Bolls Finalniederlage bei den German Open in Bremen gegen Dimitrij Ovtcharov verdeutlicht den sich abzeichnenden Wachwechsel im deutschen Tischtennis. Aussagen des EM-Rekordchampion erinnern denn auch schon an einen Regenten vor der Abdankung.

Olympia 2012: Bolls Frust nach Aus im Achtelfinale
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Im Herbst seiner imponierenden Karriere ist Deutschlands Tischtennis-Star Timo Boll noch einmal um eine Erfahrung reicher geworden. Bei der Siegerehrung eines bedeutenden Turniers wie am Sonntag bei den German Open in Bremen auf dem Podest unter einem Landsmann zu stehen, war für den Düsseldorfer EM-Rekordchampion ein völlig unbekanntes Gefühl. Dimitrij Ovtcharov hat den seit seiner olympischen Bronzemedaille in London spürbar gewordenen Zeitenwandel durch seinen geradezu sensationellen Final-Coup gegen den Weltranglistenfünften endgültig greifbar gemacht.

Boll verspielt 2:0-Satzführung

Noch ganz unter dem Eindruck der unerwarteten Niederlage gegen seinen Freund und Trainingspartner heizte Boll selbst die Spekulationen über den heraufziehenden Wachwechsel zusätzlich an. "Ich konnte den Schalter nicht mehr umlegen. In mir hat das Feuer nicht mehr so gelodert", kommentierte der 31-Jährige die verspielte 2:0-Satzführung gegen seinen sieben Jahre jüngeren Herausforderer und erinnerte in seiner Wortwahl an Regenten vor der Abdankung.

Nur ganze zwei Wochen nach seinem scheinbar mühelosen EM-Titel Nummer sechs in Dänemark wollte der weltweit beste Spieler außerhalb Chinas körperliche Mangelerscheinungen nicht mehr leugnen: "Die letzten Wochen waren hart. Ich rette mich gerade von Spiel zu Spiel."

Gegen den Aufschlag-Virtuosen Ovtcharov, in der Weltrangliste momentan noch sechs Plätze tiefer notiert, reichten sein viel gerühmtes "goldenes Händchen" und seine große Erfahrung in Bremen aber nicht mehr. Zu hungrig, zu ehrgeizig und laut Boll auch "pfiffiger und spritziger" agierte sein Nationalmannschafts-Rivale auf der anderen Tischseite. "Ich habe gespürt, ich habe eine Chance. Ich musste aggressiv von beiden Seiten spielen, und irgendwann ist mir das endlich gelungen", beschrieb "Dima" die entscheidende Phase des ersten rein deutschen German-Open-Endspiels seit 1963.

Ovtcharov als "Mr. Future" gefeiert

Der Frage nach der Hierarchie im deutschen Vizeweltmeister-Team wich Ovtcharov nach seinem vierten World-Tour-Titel in einer Mischung aus Respekt und Rücksicht auf seinen einstigen Klubkollegen von Borussia Düsseldorf noch recht diplomatisch aus. "Für mich zählen Titel und Medaillen. Natürlich will ich gerne die Nummer eins werden, aber wenn es nicht geschieht, ist es auch gut." Auf Ovtcharovs Facebook-Seite allerdings feiern seine Fans den gebürtigen Ukrainer jedenfalls schon als "Mr. Future" (Mister Zukunft).

Boll, der nach seinem EM-Triumph für Rio 2016 seinen fünften Anlauf auf die erträumte Olympiamedaille in Aussicht gestellt hat, kennt Ovtcharovs Situation als nachdrängender "Kronprinz" allzu gut. Vor gut elf Jahren schämte sich der damals 20-Jährige beinahe dafür, "Mr. Tischtennis" Jörg Roßkopf im Februar 2002 in der Weltrangliste als deutsche Nummer eins abgelöst zu haben. Heute spielt der WM-Dritte, der 2003 als erster und bisher einziger Deutscher im Computer auch weltweit die Spitzenposition erobern konnte, die Bedeutung des Rankings hinunter: "Ich bin gerne die Nummer eins, aber was soll ich tun, wenn es ein anderer wird?"

Allerdings hat Boll derzeit eine ganz andere Sorge: "Ich traue mich gar nicht, das T-Shirt hochzuziehen und in den Spiegel zu gucken, weil ich so viel Schokolade esse. Aber die Seele braucht das gerade." So wie der Körper eine Spielpause.

(sid)
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