Deutschlands erfolgreichster Galoppsportler 30 Jahre hungern für den Erfolg als Jockey

Köln · Andrasch Starke ist Deutschlands erfolgreichster Galoppsportler. Dafür hat er auf vieles verzichtet. Ein Berufsalltag zwischen Hungern, Reiten und Telefonieren.

 Andrasch Starke reitet die Stute Shoshona im Juli in Hamburg-Horn zum Sieg.

Andrasch Starke reitet die Stute Shoshona im Juli in Hamburg-Horn zum Sieg.

Foto: Klaus-Joerg Tuchel

Muss man verrückt sein, um diesen Beruf ausüben zu können? Andrasch Starke beginnt zu schmunzeln, noch bevor die Frage zu Ende gestellt ist. Vielleicht hat er sie so erwartet, vielleicht hat er aber auch einfach Spaß beim Gedanken daran, die Antwort zu formulieren. „Nein. Muss man nicht. Man muss total verrückt sein. Das meine ich ernst“, sagt Starke. Das mit dem ernst meinen schickt er vorsichtshalber hinterher. Doch eigentlich hat Starke keine Zweifel, dass man ihn falsch verstehen kann. „Ich weiß, was ich sage“, stellt er gleich zu Beginn des Gespräch im Konferenzraum des Direktoriums für Vollblutzucht und Rennen am Rande der Galopprennbahn im Kölner Stadtteil Weidenpesch klar. Und deswegen will er auch im Anschluss nicht noch einmal abgetippt sehen, was er gesagt hat.

Andrasch Starke ist von Beruf Jockey. Einer von nicht mal 250 in Deutschland, die in dieser Randsportart Frau und Kinder ernähren können. Starke ist der erfolgreichste von ihnen. Er ist 44, hat in fast 30 Jahren mehr als 30.000 Pferde geritten und mehr als 2400 Siege errungen. „Zu sagen, es ist nur Spaß, wäre gelogen. Wenn Sie von morgens bis abends auf dem Pferd sitzen, ist das auch schon mal monoton“, sagt Starke. Er sagt „datt“ statt „das“. Drei Jahrzehnte im Rheinland ziehen das Hochdeutsch aus einem Norddeutschen. Starke ist in Stade bei Hamburg geboren, kam aber mit 15 nach Köln, um seine Ausbildung zum Pferdewirt zu beginnen.

Sein Vater war auch Jockey, die Liebe zum Pferd also vorgezeichnet. „Für mich war schon Pferde zu riechen, auf einem Pferd zu sitzen, das Größte. Und das ist es bis heute. Vielleicht aus einem anderen Blickwinkel“, erinnert er sich. Doch Pferde zu mögen ist das eine, Jockey zu werden deswegen aber noch längst keine logische Konsequenz. „Man geht ja nicht zum Arbeitsamt und sagt: Haben Sie einen Vorschlag, was ich machen kann? Und die sagen dann: Werden Sie doch Jockey.“ Wenn Starke „Jockey“ sagt, spricht er das „J“ am Anfang wie bei „Jacke“, nicht wie bei „Dschingis Khan“.

Auf dem Tisch im Konferenzraum steht nur eine Tasse Kaffee. Starke lehnt dankend ab. Er zieht Tee vor. Und Wasser. Seit fast 30 Jahren. An vielen Tagen nur Tee und Wasser. Nicht zum Frühstück. Frühstück gibt es selten im Leben eines Jockeys, der 1,70 Meter groß ist und ein Wettkampfgewicht von 53 Kilogramm halten muss. „Man muss hungern für diesen Beruf. Es ist wie eine zwölfmonatige Diät“, sagt Starke. Er sagt es ohne Bedauern. Er will kein Mitleid. Aber das Thema Essen bestimmt eben sein Leben. Fast so sehr wie Pferde. Vielleicht genauso sehr. Womöglich noch mehr.

Danedream galoppiert in Paris zum Sieg
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Die 53 ist seine magische Zahl. Die, die er im Blick haben muss auf der Waage. „Man muss auch mal kurz vor dem Rennen Gewicht in der Sauna abkochen. Das ist ja vor allem Flüssigkeitsverlust. Man kann mal schnell eben zwei, zweieinhalb Kilo reduzieren. Je mehr Renntage in der Woche, desto einfacher ist es, das Gewicht zu halten“, sagt Starke. Neben Saunagängen sind auch warme Wannenbäder – gerne 41 Grad – in der Szene erprobt. Wer sein Berufsleben lang hungern muss, wird irgendwann zum Ernährungsexperten. Starke kennt sich nach all den Jahren vermutlich besser mit Nährwerten, Ballaststoffen und Vitaminen aus als so mancher Koch. „Ein Beispiel: Kein Jockey isst Matjes. Wir sind viel zu salzempfindlich durch den häufigen Wasserentzug“, sagt er. Allein: Nur über Fasten funktioniert das Gewicht halten nicht. Deswegen treibt Starke jeden Tag zwei Stunden Sport. Ausdauersport. Gerne auf dem Rennrad. Weniger gerne auf dem Hometrainer zu Hause in Köln-Langel. Dazu kommt Stretching. Jockeys haben eine noch ungesundere Sitzhaltung als Menschen vor dem PC. „Wir haben zwar Muskeln, aber sehr sehnige Muskeln“, sagt Starke. „Gucken Sie sich die Skispringer an, da wiegt auch keiner mehr als 60 Kilo, die Motorradrennfahrer, die sehen auch aus wie Jockeys.“

Die Frage lautet trotzdem: Wie lange kann einer diese Disziplin aufrechthalten, diese Askese – und das auch noch in einer Region, in der „Fünfe gerade sein lassen“ und „Leben und leben lassen“ zum Alltag gehören? Starke weicht der Frage nach dem Karriereende aus. Nicht, weil sie ihm unangenehm wäre. Er hat sie in den vergangenen Jahren oft beantwortet, das Problem war nur: Die Antworten überholten sich immer wieder. „Mit 35 habe ich gesagt, ich reite noch bis 40. Mit 40 habe ich gesagt, ich muss mich revidieren, ich reite noch bis 45. Jetzt sage ich gar nicht mehr, wann ich aufhöre.“

Einmal in seiner Karriere hat er Disziplin fundamental vermissen lassen: 2002 war er wegen Kokainkonsums sechs Monate lang gesperrt. Kokain betäubt den Appetit. Doch Starke kehrte zurück, und so ist der deutsche Galoppsport über jedes Jahr froh, das Starke noch dranhängt. Als Aushängeschild. Nicht als Vorbild, denn um Vorbild sein zu können, braucht es Nachwuchs. Und der ist unter den Jockeys in Deutschland nicht in Sicht. „Wir leben im 21. Jahrhundert. Wer sucht sich einen Beruf aus, für den er jeden Tag um sein Gewicht kämpfen muss? Das ist doch absurd. Es ist in den letzten 20 Jahren dann auch keiner zu mir gekommen, der Jockey werden wollte“, sagt Starke. Er sagt das nicht als Vorwurf. Die Rahmenbedingungen bringen es mit sich.

Justify siegt im Kentucky-Derby
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Foto: ap, DB

Als Jockey ist man nicht nur auf Dauer-Diät, man ist auch davon abhängig, welcher Besitzer einen für Rennen bucht. Also ist das Handy immer an, ein Jockey immer auf Standby. Auf der Rennbahn muss er sich binnen Minuten auf ein ihm unbekanntes Pferd umstellen, bevor es auf dessen Rücken mit bis zu 60 km/h auf die Runde geht. Ohne Knautschzone. Für 50 Euro pauschal pro Ritt und fünf Prozent Gewinnanteil. Halb so viel wie im Ausland. Und das soll verlockend sein für einen 15-Jährigen? „Gehen Sie mal auf einen Schulhof und finden mir einen jungen Mann, der nicht zu groß ist und 52, 53 Kilo wiegt. Und der auch nicht mehr wiegen wird, wenn er älter wird. Das ist eine Sportart, die gar nicht zeitgemäß ist. Wer wiegt schon 53 Kilo? Ein 13-Jähriger wiegt schon 55“, sagt Starke.

Er ist längst selbstständig, reitet aber vor allem aber für den Stall „Asterblüte“ von Trainer Peter Schiergen in Köln. Jeden Tag. Ab morgens um fünf. An diesem Ablauf haben auch all seine Erfolge nichts geändert, nicht die acht Siege im Championat, nicht die sieben Erfolge im deutschen Derby. Sein erstes Rennen gewann er 1992 in Hoppegarten bei Berlin, sein größtes 2011 in Paris. Damals siegte er mit „Danedream“ beim Prix de l’Arc de Triomphe in Paris. Eine Sensation. „Danedreams Besitzer musste ja erst mal 100.000 Euro in die Hand nehmen für die Nachmeldung. Das war mutig, ich weiß nicht, ob ich es gemacht hätte. Aber es gab ja für den Sieg im Arc auch den 28-fachen Einsatz zurück“, erinnert er sich. „Ohne Danedream wäre ich nicht der Andrasch Starke von heute. Sie hat mir schon viel ermöglicht.“ Starke gewann ein Jahr später mit der Stute auch im englischen Galoppsport-Mekka Ascot. „Große Rennen zu reiten, macht einen reifer. Große Rennen zu gewinnen, macht einen groß. Groß im Wesen, groß im Kopf“, sagt Starke. Er sagt aber genauso: „Es gibt auch Tage, an denen ich abends vor dem Fernseher sitze und denke: Was hast du dir heute für einen Scheiß zusammengeritten?“

Doch schlechte Ritte sind die Seltenheit, sonst würden sie kaum auch international den Namen Andrasch Starke mit Hochachtung nennen. Gerade in England und Frankreich, wo der Rennsport eine viel größere Tradition hat als hier. Wäre Starke Engländer oder Franzose, vielleicht hätten sie ihm schon ein Denkmal gebaut. Aber er hadert nicht. Er ist auch so zufrieden. „Ich hab durch den Galopprennsport viel sehen dürfen von der großen, weiten Welt“, sagt er. Unzählige Flüge, unzählige Hotelbetten, knapp 60.000 Kilometer im Auto jährlich. Neuss, Krefeld, Düsseldorf, Baden Baden, Hongkong, Melbourne, Kapstadt, Tokio.

Und immer wieder auch zurück nach Köln. „Das Rheinland ist mir ans Herz gewachsen. Das ist immer ein Stück Leben. Und ich merke, wenn ich mal länger im Norden bin, dass ich froh bin, wenn ich wieder hier bin. Aber ich fühle mich auch nach wie vor im Norden wohl, und es könnte auch sein, dass es mich irgendwann wieder dorthin verschlägt“, sagt er. Denn der Hunger auf Mutters Küche ist genauso groß wie der auf Erfolge. „Wenn ich sündige, dann bei Mama, dann auch alles, was da ist. Da gibt’s auch mal Schokolade. Auch mal Rouladen. Aber eben alles im Rahmen. Ich versuche, das ganze Jahr über mein Gewicht zu halten“, sagt Starke.

Und dann steht er auf. Sagt Tschüss und geht. Hungern, reiten oder telefonieren.

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