Zu wenig Therapieplätze

Die Psychotherapeuten in Deutschland fürchten um ihre Existenz. Nach dem neuen Versorgungsgesetz können ihre Praxen teilweise aufgekauft werden. Allerdings fehlen heute schon Therapieplätze.

Berlin Bei der Diagnose Depression, Burnout oder Angststörung müssen sich Kassenpatienten auf lange Wartezeiten einstellen. Für das erste Gespräch mit einem Therapeuten müssen sich die Versicherten im Durchschnitt drei Monate gedulden. Bis zum Therapiebeginn gehen abermals drei Monate ins Land. Dies berichten Krankenkassen und Bundespsychotherapeutenkammer übereinstimmend.

Dabei gibt es erhebliche regionale Unterschiede. Während die Wartezeit für das Erstgespräch in Mecklenburg-Vorpommern 18 Wochen beträgt, sind die Patienten in Berlin bereits nach acht Wochen an der Reihe. In NRW sind es knapp 14 Wochen. Trotz der langen Wartelisten gilt Deutschland als überversorgt mit psychotherapeutischen Praxen. Der Grund: Die Bedarfszahl wurde in den 90er Jahren festgelegt. Seitdem sind die Krankschreibungen wegen seelischer Leiden erheblich gestiegen.

Die Zahlen, die die Krankenkassen vorlegen, sind erstaunlich: 31 Prozent der GKV-Versicherten haben nach einer Erhebung Deutschlands größter Krankenkasse, der Barmer/GEK, im Jahr 2009 die ambulante Diagnose "Psychische oder Verhaltensstörung" erhalten.

Die Kosten für psychische Erkrankungen sind zwischen 1993 und 2008 von 19,1 Milliarden auf 28,7 Milliarden Euro gestiegen, meldet die Psychotherapeutenkammer unter Berufung auf Zahlen des Statistischen Bundesamtes. Besonders stark seien die Kosten für depressive Leiden von 1,3 auf 5,2 Milliarden Euro geklettert. Auf die Arbeitswelt wirken sich die seelischen Erkrankungen mittlerweile enorm aus: Jeder sechste Fehltag der Arbeitnehmer beruht auf einer solchen Diagnose. Die Dynamik ist erheblich: Nach Angaben der Betriebskrankenkassen entfielen 1976 noch 46 Krankheitstage im Jahr pro 100 Versicherten auf psychische Erkrankungen. Heute sind es 150 Tage.

Angesichts dieser Zahlen sehen die Psychotherapeuten Handlungsbedarf: "Wir brauchen dringend eine Regelung im Versorgungsgesetz, damit es bei den psychotherapeutischen Praxen nicht zu einem Abbau kommt", fordert der Präsident der Psychotherapeutenkammer, Rainer Richter. "Wir brauchen auch eine Debatte darüber, wie hoch der Bedarf an Psychotherapeuten tatsächlich ist."

Das neue Versorgungsgesetz sieht vor, dass die Kassenärztlichen Vereinigungen (KV) überzählige Arztpraxen und Sitze von Psychotherapeuten aufkaufen können, wenn ein Arzt oder Therapeut ausscheidet. Damit soll die Über- und Fehlversorgung reguliert werden. Wegen der rechnerischen Überversorgung fürchten die Psychotherapeuten, dass bundesweit 6000 Praxen geschlossen werden könnten. Sie fordern, dass das neue Gesetz noch zu ihren Gunsten geändert wird, bevor es in Kraft tritt.

Für das Rheinland gibt die KV Nordrhein unabhängig von der Gesetzesänderung Entwarnung. "Wir planen nicht, psychotherapeutische Praxen aufzukaufen", sagte KV-Chef Peter Potthoff unserer Zeitung. "Wir sehen eine große Nachfrage nach Therapieplätzen, die bereits heute nur schwer erfüllt werden kann."

Auch in der Regierungskoalition ist das Problem erkannt: "Es gibt bei den Psychotherapeuten zum Teil erhebliche Engpässe und Wartezeiten. Da müssen wir ran und da schauen wir auch beim Versorgungsgesetz, was noch besser geht", sagte CDU-Gesundheitsexperte Jens Spahn.

Aus Sicht der Psychotherapeuten müssten in Deutschland eher noch mehr als weniger Praxen ihre Türen öffnen. Ein psychisch kranker Patient könne genauso wenig wie ein körperlich Kranker monatelang auf eine Behandlung warten, so Richter. Aus seiner Sicht sollten drei Wochen Wartezeit die Obergrenze sein. Wer nicht warten könne, müsse sich notfalls an ein psychiatrisches oder psychosomatisches Krankenhaus wenden, obwohl es besser wäre, erst ambulant und nur bei besonders schweren Fällen stationär zu behandeln.

Die Krankenkassen weisen die Schuld für die langen Wartezeiten teilweise an die Psychotherapeuten zurück. Viele Therapeuten würden nur in Teilzeit arbeiten, während die Bedarfsplanung für eine Vollzeit-Tätigkeit ausgelegt sei, bemängelt der Vize-Chef der Barmer/GEK, Rolf-Ulrich Schlenker. "Die Psychotherapeuten müssen ihre Praxisöffnungszeiten ausweiten", fordert auch eine Sprecherin des Spitzenverbandes der gesetzlichen Krankenkassen. Viele Therapeuten würden neben ihrer Arbeit in der Praxis Geld als Gutachter und Dozenten verdienen.

Aus Sicht der Krankenkassen gibt es nur eine teilweise Unterversorgung. Einen besonderen Mangel macht die Barmer/GEK im Osten, in ländlichen Gebieten Deutschlands und bei der Behandlung von Kindern und Jugendlichen aus. Bevor die Kapazitäten ausgeweitet werden, müsse die Behandlung effizienter werden: Es sollten mehr Kurzzeit- und Gruppentherapien angeboten werden. Die Experten rechnen mit weiter steigenden Kosten wegen seelischer Leiden. Allein für Krankengeldzahlungen aufgrund psychischer Erkrankungen seien 2010 rund zwei Milliarden Euro geflossen, das entspricht gut einem Viertel der Gesamtsumme der Krankengeldzahlungen im gesetzlichen System.

Die Kosten für die Klinikbehandlungen seelischer Leiden beliefen sich im Jahr 2009 auf 4,6 Milliarden Euro. Für Psychopharmaka wurden 2010 knapp 2,5 Milliarden Euro ausgegeben. Die ambulante Therapie schlug mit 1,3 Milliarden Euro zu Buche.

(RP)
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