Wulff rügt Schwarz-Gelb

Zum Einjährigen im Amt meldet sich das Staatsoberhaupt mit klarer Kritik an Merkels Politikstil und Lob für die Grünen zurück. Seine monatelange Zurückhaltung erklärt er mit Arbeiten am "Fundament".

Berlin Fast hätten wir vergessen, dass da noch einer sitzt im Schloss Bellevue, der nicht nur Orden verteilt und Gesetze unterschreibt, sondern den Deutschen und der Welt auch etwas zu sagen hat. Nachdem Christian Wulff erst im dritten Wahlgang ins Amt gestolpert war, hatte er mit Äußerungen zu Thilo Sarrazin, Duisburgs OB Adolf Sauerland und dem Islam als Teil Deutschlands Prägnantes erwarten lassen – und sich dann rar gemacht. Nur ausgewogen, bloß nicht anecken und im Zweifel lieber nichts sagen, lautete für viele Monate der enttäuschende Befund. Zum Einjährigen im Amt nimmt Wulff davon zumindest eine Auszeit und klopft vernehmlich und kritisch ans Glas.

In gleich vier Interviews geht er mit Angela Merkels Politikstil hart ins Gericht. Ohne sie persönlich zu erwähnen, verortet er bei ihr die Ursache für eine Politikverdrossenheit, die erstmals die Politiker selbst erfasst habe – weil sie im Parlament nicht mehr entschieden und auf Parteitagen nicht mehr um die Richtung rängen.

Deshalb lobt er ausdrücklich die Grünen, die ihr Ja zur Energiekonzept erst auf einem Sonderparteitag verbindlich machten. "Es hätte auch denen gut angestanden, zu einer solchen fundamentalen Richtungsveränderung der deutschen Politik einen Parteitag einzuberufen, die diese Veränderung jetzt vollziehen und noch vor Monaten eine andere Entscheidung – auf einem Parteitag – getroffen haben." Ein Schlag ins Gesicht der CDU-Vorsitzenden. Damit das auch jeder mitbekommt, beeilt sich FDP-Generalsekretär Christian Lindner mit dem Hinweis, die Liberalen könnten nicht gemeint sein, denn die hätten bei ihrem Parteitag intensiv über den beschleunigten Atomausstieg beraten.

Wulff kritisiert den Stil, nicht das Ergebnis. Die Energiewende bezeichnet er als "Mann-auf-dem-Mond-Projekt", also als Vorhaben, in das eine Nation ihre ganze Energie und Entschlossenheit stecken müsse, damit sie ein ehrgeiziges Ziel auch erreicht. Kritik meldet er aber auch an dieser Stelle an, indem er darauf verweist, solche Vorhaben international besser abzustimmen.

Auf die direkte Nachfrage, warum er sich bei den Themen Atom und Euro, die seit Monaten die Nation bewegen, nicht zu Wort meldete, verweist Wulff auf seine Prüfungspflichten. "Manchmal muss man sich zurückhalten", sagt der Präsident. Schließlich werde er etwa beim Atomausstieg "noch zu entscheiden haben, ob das mit Eigentumsrechten und der Verfassung übereinstimmt".

Bei der Griechenland-Krise greift Wulff zu starken Worten. "Etwas Grundsätzliches ist aus den Fugen geraten", sagt er, verweist auf die 70 000 Briefe, die er im ersten Amtsjahr erhalten habe, und mahnt, das "Unbehagen der Bürger" ernst zu nehmen. Sie hätten ein klares Gespür dafür, dass hier Eliten versagt und nicht alle fair gespielt hätten. "Wir müssen uns Sorgen machen, ob Fairness, Gerechtigkeit, Verantwortung und Solidarität im richtigen Gleichgewicht sind", sagt Wulff und warnt davor, dass die "Bereitschaft zur Solidarität extrem fällt, wenn es nicht fair zugeht".

Einerseits macht der Präsident ein dickes Fragezeichen hinter Ethikkommissionen, wenn sie an die Stelle der gewählten Parlamentarier treten, andererseits beklagt er "kommunikative Mängel". Das ist eindeutig auf Schwarz-Gelb gemünzt. Denn Wulff spielt mit der Handlung des Films "Good bye, Lenin" und stellt die Überlegung an, wie wohl einer empfände, der im Februar in einen Tiefschlaf gefallen und im Juni wieder aufgewacht wäre: Guttenberg nicht mehr Minister, Westerwelle nicht mehr FDP-Chef, in Baden-Württemberg ein Grüner Ministerpräsident, Union und FDP steigen aus der Kernkraft aus – die Folgerung für Wulff: "Der Politikbetrieb muss aufpassen, dass die Entscheidungen abgewogen getroffen und den Menschen erklärt werden."

Wie kann einer kommunikative Mängel bei anderen beklagen und selbst im Zweifel lieber schweigen? Es hat mit Wulffs Erkenntnis zu tun, dass er nicht als großer Brückenbauer, als Arbeiter am Zusammenhalt der Gesellschaft, erfolgreich sein und zugleich durch Provokationen Teile der Gesellschaft immer wieder ausgrenzen kann. Er habe in der Zwischenzeit an diesem "Fundament" arbeiten müssen. Zudem beruhigt er sich selbst mit einem Vergleich: Roman Herzog habe die mit seiner Amtszeit verbundene Ruckrede erst im dritten Amtsjahr gehalten; er habe mit seiner Rede zum 3. Oktober ("Islam als Teil Deutschlands") bereits zu Beginn einen Beitrag geliefert, der mit ihm iZKdentifiziert werde.

"Der Bundespräsident ist nicht der Oberschiedsrichter auf dem Platz, der mit Gelben und Roten Karten herumläuft und diese bei Bedarf zieht und sich zu allem und jedem äußert und damit Akteur der Tagespolitik wird" – so lautet Wulffs Amtsverständnis. Und dann zieht er doch noch eine Gelbe Karte: In der Libyen-Frage sei die umstrittene deutsche Enthaltung im Sicherheitsrat "ein Rückschlag für den Aufbau europäischer Verteidigungsstrukturen" gewesen.

Klare Positionierungen im Schloss Bellevue? Geht doch!

(RP)
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