NRW-Desaster für die CDU Wirkung bis Berlin

Berlin Geschichte wiederholt sich nicht. Diesen Satz hat Angela Merkel oft genug gesagt: Und gerne noch ergänzt: "Wenn, dann nur als Farce." Knapp vier Wochen vor der Landtagswahl in NRW hatte die Kanzlerin im Gespräch mit unserer Zeitung vorausschauend erklärt, dass sie keine Parallelen zu 2005 sehe. Damals hatte die rot-grüne Landesregierung in Düsseldorf krachend verloren und Gerhard Schröder zu Neuwahlen im Bund gezwungen. Am Ende stand der Machtverlust für den SPD-Kanzler.

Für die CDU-Regierungschefin Angela Merkel gilt das im Jahr 2012 nicht. Das Berliner Bündnis wird trotz der desaströsen Niederlage der CDU in NRW halten. Aus mehreren Gründen: Zunächst wird in der Bundes-CDU das historisch schlechte Ergebnis in Düsseldorf dem verstolperten Wahlkampf des Spitzenkandidaten Norbert Röttgen zugeschrieben. Merkels Popularitätswerte im Bund sind gut, auch die Umfragen für die CDU liegen bundesweit deutlich über dem NRW-Ergebnis. Innerparteiliche Kritik an Merkel dürfte sich daher im Rahmen halten. Der Schuldige ist schließlich gefunden. Vom "negativen Röttgen-Effekt" war gestern bereits im Adenauer-Haus die Rede.

Zweitens bleiben die Machtverhältnisse in der Bundesrepublik zumindest formell bestehen. Im Bundesrat hat Schwarz-Gelb schon länger keine Mehrheit mehr, die Blockademacht der SPD-geführten Landesregierungen verändert sich nicht, wenn aus der rot-grünen Minderheitsregierung in NRW eine Mehrheitsregierung wird. Hinzu kommt: Merkel hat kein Interesse, in der größten Krise Europas seit dem Zweiten Weltkrieg ihre Regierung aufs Spiel zu setzen und das Wagnis einer Minderheitsregierung oder vorgezogener Neuwahlen einzugehen. Nach einem halben Dutzend Abwahlen und Rücktritten in den Regierungspalästen Europas ist Bundeskanzlerin Merkel so etwas wie die letzte Konstante der Krise. Das will sie nicht aufs Spiel setzen.

Und doch verschieben sich durch die Wahl im Westen spürbar wesentliche Bauteile der Tektonik der Macht in der Republik. In der CDU ist Angela Merkel nun vollends auf sich gestellt. Die Karriere des Vorzeige-Intellektuellen Norbert Röttgen ist vorerst beendet. "Er wird, wenn er Umweltminister bleiben sollte, nur ein Zombie sein, ein politisch Untoter", kommentierte der Politikberater Michael Spreng bissig den Absturz des Meckenheimer CDU-Politikers. Ein Unionsmitglied in der Bundesregierung antwortete gestern Abend auf die Frage nach den Karrierechancen von Norbert Röttgen: "Welche Karriere?"

Für Angela Merkel und die Konservativen im Land ist das durchaus tragisch. Nur wenige Spitzenpolitiker haben ähnliche analytische Fähigkeiten wie Röttgen, ähnliche intellektuelle Kapazitäten. Als Minister und Parteirhetoriker war Röttgen ein Gewinn für die CDU. Nur führte ihn sein übertriebener Ehrgeiz an die Spitze des größten Landesverbandes und damit zwangsläufig auch auf die Wahlkampfbühne. Doch genau da punktet Röttgen, der eine beispiellose Zahl innerparteilicher Gegner angehäuft hat, nicht. Nun ist der CDU-Hoffnungsträger a.D. aber gleichsam auf allen politischen Ebenen beschädigt und Minister von Merkels Gnaden. "Deutschlands beste Jahre kommen noch" heißt ein Buch Röttgens über nachhaltige Politik. Seine besten Jahre liegen nun hinter ihm. Röttgens Rücktritt als Landeschef war denn auch — um ein Wort Merkels zu bemühen — alternativlos.

Die Kanzlerin wird sich also — mehr denn je — auf ihre eigene Popularität, auf ihre eigenen Qualitäten als europäische Krisenmanagerin, verlassen müssen, will sie 2013 erneut ins Kanzleramt einziehen. Sollten sich die persönlichen Werte der Regierungschefin in den kommenden 16 Monaten nicht dramatisch verändern, dürfte die CDU die Bundestagswahl zur "Merkel-Wahl" umfunktionieren wollen. Die Taktik der alten und neuen Ministerpräsidentin Nordrhein-Westfalens, Hannelore Kraft, sich als konsensorientierte Landesmutter in Szene zu setzen und einer inhaltlichen Polarisierung aus dem Weg zu gehen, beherrscht auch Angela Merkel. Es war schließlich Merkel, die 2009 die Strategie der "asymmetrischen Demobilisierung" erfand, einer Art Nichtangriffspakt, um den politischen Gegner zu ermüden und einzulullen.

Doch auch Merkels schärfster Gegner, die Sozialdemokratie, ist nach dem überzeugenden Sieg in NRW, der selbst ernannten "Herzkammer" der Partei, gestärkt wie selten seit der herben Niederlage 2009. Schon morgen will die SPD-"Troika" aus Parteichef Sigmar Gabriel, Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier und Ex-Finanzminister Peer Steinbrück auf einer gemeinsamen Pressekonferenz in Berlin das neue Selbstbewusstsein demonstrieren. Die SPD-Führung wird eine harte Haltung bei den Verhandlungen mit der Bundesregierung über den Fiskalpakt ankündigen und reihenweise Forderungen präsentieren. Auch die Gespräche zwischen Regierung und Opposition über die Steuerreform, das deutsch-schweizerische Steuerabkommen und die Energiewende dürfte die SPD nun mit mehr Gewicht führen. Spätestens seit gestern Abend regiert damit de facto eine große Koalition in Deutschland.

Angela Merkels eigentlicher Koalitionspartner, die FDP, wird im Bund durch das sensationelle Düsseldorfer Ergebnis gestärkt, die Röslers und Dörings wissen aber, dass sie den Überraschungssieg vor allem der Popularität ihres Spitzenkandidaten Christian Lindner zu verdanken haben. Ein allzu forsches Auftreten wird sich die Bundespartei nicht leisten können. Lindners Erfolg verschafft dem angeschlagenen FDP-Chef Philipp Rösler nur eine Verschnaufpause.

Alle "etablierten" Parteien werden sich zudem mit einem Phänomen auseinandersetzen müssen, das allmählich zur Institution wird: den Piraten. Nach Berlin, dem Saarland und Schleswig-Holstein sitzen die Piraten nun auch im größten Bundesland im Parlament. Bürgerbeteiligung und Internetkompetenz sind die Zugpferde der Partei. Vor allem als Protestpartei haben die Piraten aber Wähler gewonnen — und so die Linkspartei pulverisiert. Die Piraten sind im Parteiensystem angekommen. Bald dürfte sich auch die Koalitionsfrage stellen. Nicht auszuschließen, dass SPD und Grüne, denen im Bund noch eine Mehrheit fehlt, sich bis 2013 den Piraten annähern. Merkel fehlt durch die Schwäche der FDP eine Machtoption.

Fazit: Eine kleine Bundestagswahl war die NRW-Wahl nicht. Eine Wahl mit Signalwirkung für die Bundestagswahl indes schon. Der Kampf ums Kanzleramt hat begonnen.

(RP/jh-)
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