Kolumne Gesellschaftskunde Wir sollten mehr unserer Intuition vertrauen

Seit der Aufklärung gilt in Europa die Vernunft mehr als das Gefühl. Das ist ein Fehler. Kluge Entscheidungen trifft nur, wer auch sein Bauchgefühl einbezieht.

Manchmal bleiben von Großereignissen völlig unscheinbare Bilder in Erinnerung. Zum Beispiel die Aufnahme von Jogi Löw, wie er früh morgens am Strand von Campo Bahia in Brasilien durch den Sand schlendert, Musik hört, nachdenkt. Womöglich hat er in solchen Momenten auf etwas gehört, was wir innere Stimme nennen oder Bauchgefühl. Und hat danach strategische Entscheidungen getroffen. Und womöglich war genau das ein Geheimnis seines Erfolgs - obwohl man der Intuition hierzulande doch rein gar nichts zutraut.

Mit der Aufklärung hat sich in Europa die Überzeugung durchgesetzt, die Vernunft zähle mehr als das Gefühl. Entscheidungen sollten wir folglich auf der Basis von Fakten, Zahlen, Empirie treffen - möglichst unbeeinflusst von Emotionen. Alles Unbewusste gilt als suspekt, als potenzielle Verzerrung, als Chaotisierung von Denkprozessen, die "mit kühlem Kopf", kontrolliert und rational getroffen werden sollten.

Intuition ist aber nicht nur der schlechte Ersatz für kühle Berechnungen, nicht die Notlösung, wenn uns Zahlen fehlen und wir mit klarem Kalkül nicht weiterkommen. Das haben auch Wissenschaftler erkannt, die Entscheidungsprozesse in Unternehmen untersuchen. Gerd Gigerenzer etwa, Direktor des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung, schreibt in einem Buch über den Umgang mit Risiko, Intuition sei weder eine Laune noch Quelle aller schlechten Entscheidungen. "Sie ist unbewusste Intelligenz, welche die meisten Regionen unseres Gehirns nutzt."

Anderen Kulturen ist das viel vertrauter. In Indien etwa kann man auch in hochgebildeten Schichten Menschen begegnen, die vor einer Entscheidung innehalten, bewusst Kontakt zu ihrem Inneren aufnehmen und ihr spontanes Empfinden in ihre Überlegungen einbeziehen. Und das sind keine Esoteriker.

Vielleicht hat ihr Verhalten damit zu tun, dass Menschen in einem Staat mit 1,2 Milliarden Einwohnern mit vielen Ungewissheiten leben müssen. In einer komplexen, unsicheren Umgebung führt Logik allein aber nicht sehr weit. Vielmehr schlagen sich jene am besten durch, die ihr Erfahrungswissen nutzen - auch die Erfahrungen, die sich im Unterbewussten ablagern.

Auch das Leben in Deutschland wird immer komplexer; die Ungewissheit in vielen Fragen des Lebens nimmt zu. Darum wird Intuition auch hierzulande wichtiger werden, und es ist an der Zeit, wieder Kontakt zum eigenen Empfinden aufzunehmen - Intuition zu üben. Nur dann ist dem Bauchgefühl zu trauen.

Ihre Meinung? Schreiben Sie unserer Autorin: kolumne@rheinische-post.de

(RP)
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