Frauensache "Wir sind angemacht worden"

Seit eine "Stern"-Reporterin ihre Naherfahrungen mit Rainer Brüderle öffentlich gemacht hat, diskutiert Deutschland über Sexismus. Leben wir tatsächlich in einem Land der Zunahekommer und Tatscher?

Der "Stern" hat Emanzipationsgeschichte geschrieben: Auf der Titelseite Frauenkonterfeis, quer darüber ein gelber Balken mit schwarzen Lettern: "Wir haben abgetrieben." Das hat eine Debatte über den Paragrafen 218 ausgelöst, einer ganzen Frauengeneration Mut gegeben und am Ende die weibliche Selbstbestimmung gestärkt. Vielleicht erscheint nun, mehr als 40 Jahre später, ein "Stern"-Titel mit Frauenkonterfeis, quer darüber ein gelber Balken mit schwarzen Lettern: "Wir sind angemacht worden." Seit eine "Stern"-Reporterin ihre Naherfahrungen mit Rainer Brüderle öffentlich gemacht hat, ist eine Debatte über Sexismus entbrannt. Wie jedoch debattiert wird, macht mich wütend: Maßlos und undifferenziert wird angeprangert, Frauen ziehen sich auf die Opferrolle zurück und Brüste werden zum Handicap.

Unter dem Twitter-Stichwort "Aufschrei", das Frauen bei Berichten über alltäglich erlebten Sexismus verwenden, gibt es mehr als 25 000 Einträge. Es scheint, als lebten wir in einem Land der Zunahekommer und Tatscher. Bei genauerem Hingucken finden sich jedoch Erlebnisse wie "Kommilitonen, die mich verklemmt finden, wenn ich sexistische Frauenwitze doof finde" oder "Eine Gruppe von Männern macht Platz, damit ich vorbeijoggen kann, der Jüngste sagt: Für dich mach ich doch gerne Platz, Mäuschen." Ist das Sexismus? Nein, es ist plumper Humor und billige Anmache. Ich traue uns Frauen zu, dass wir damit umgehen können.

Natürlich gibt es die Fälle, wo Grenzen überschritten werden, wo Männer ihre Macht nutzen, um mit Worten und Händen zudringlich zu werden. Der Konzernchef etwa, der bei einem Arbeitsessen der jungen Mitarbeiterin die Hand auf den Oberschenkel legt oder der Abteilungsleiter, der die Auszubildende mit den Worten begrüßt: "Ordentlich Holz vor der Hütte haben Sie ja, nun wollen wir mal sehen, was Sie im Köpfchen haben." Mich verwundert die öffentliche Verwunderung über solche Geschichten. Das ist naiv, und ehrlich gesagt kaufe ich der Öffentlichkeit diese Naivität nicht ab. Es gibt in unserer Gesellschaft Sexismus, so wie es Rassismus, Diskriminierung, und Gewalt gibt. Aber Sexismus ist kein Massenphänomen, und anzügliche Sprüche machen noch keinen Sexisten. Was wiederum nicht heißt, dass man sich diese Sprüche gefallen lassen muss. Sexismus beginnt dort, wo Macht missbraucht wird: Wenn berufliche Positionen, Abhängigkeitsverhältnisse oder körperliche Stärke genutzt werden, um einem anderen Menschen gegen seinen Willen nahezukommen. Hier ist ein Aufschrei angebracht. Aber auch nur hier.

Ihre Meinung? Schreiben Sie unserer Autorin: kolumne@rheinische-post.de

(RP)
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