Wir können Gauck gut gebrauchen

Vorgestern noch Wulff, gestern Röttgen, heute Lindner. Unsere Politik legt, leider zu häufig tatkräftig unterstützt von hyperventilierenden Medien, eine Hektik an den Tag, die es schwermacht, noch mitzukommen. Viele Bürger artikulieren längst ihren Unmut über eine Parteiendemokratie, die nach ihrem Empfinden nur noch als Getriebene von Ereignis zu Ereignis eilt: immer schneller, immer weiter, leider aber nicht immer höher, sondern eher tiefer, bis es nicht mehr geht. Unser politisches System ist stark Burn-out-gefährdet.

Es wird also Zeit für einen Kompass. Vielleicht, so ist es nach allen Umfragen die Hoffnung von drei Viertel der Deutschen, trägt Joachim Gauck diesen Kompass in der Tasche. Der Rostocker Pastor, mit 72 Jahren und vom Auftreten her so alt, wie die gesamte derzeitige FDP-Führung wirkt, wird an diesem Sonntag zum elften Bundespräsidenten gewählt. Er dürfte in der Bundesversammlung die Stimmen der staatstragenden Parteien CDU/CSU, FDP, SPD und Grüne und der Freien Wähler erhalten; nur die Linke leistet sich die Geschmacklosigkeit, gegen den DDR-Bürgerrechtler eine von der Stasi mitfinanzierte Aktivistin als Gegenkandidatin aufzubieten.

Die ihn tragende komfortable Mehrheit, aber auch die überbordenden Erwartungen an den Gesellschaftsentschleuniger können Joachim Gauck nur überfordern. Wir Deutschen werden mit diesem Präsidenten auch unsere Enttäuschungen erleben; und die Politiker, die ihn bereits jetzt nur misstrauisch bejubeln, ebenfalls. Gerade weil er bei aller Beredsamkeit nicht die Geschmeidigkeit des politischen Durchschnittsbetrieblers an den Tag legt. In unserer harmoniesüchtigen Republik wird man da in Windeseile vom "Impulsgeber" über den "Querdenker" zum "Querulanten" herabgestuft. Gauck ist aber klug, das heißt vor allem: lernfähig genug, diese Gefahr zu sehen. Das hat er in den wenigen Wochen seit seiner überraschenden Nominierung bewiesen. Aus dem freimütigen Bürger Gauck wurde bereits der Präsident im Wartestand. Selbst seine ihm immer wieder gefährlich werdende Eitelkeit hält er besser im Zaum.

Gaucks großes Thema ist die Freiheit. Manche, erstaunlicherweise auch die ebenfalls aus Ostdeutschland stammende christdemokratische Bundeskanzlerin, halten ihn deshalb für einen Ein-Themen-Mann. Der Begriff der Freiheit ist aber einer der größtmöglichen Vielfalt, die die Grundlage unserer Nachkriegsgesellschaft bildet: In ihm finden sich die Möglichkeiten und Beschränkungen des Individuums, die Chancengerechtigkeit, die Entfaltung des Geistes wie der Wirtschaft. Das Thema ist also schier unerschöpflich und weitaus anspruchsvoller als die Abgabe tagespolitischer Kommentare. Gauck wird darüber reden. Und zwar dank seines gottgegebenen Talents so, dass wir ihm zuhören werden. Das ist eine Chance für beide Seiten. Nutzen wir sie.

(RP)
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