Martin Schulz im Interview "Wir Deutschen gelten als hartherzig"

Dem EU-Parlamentspräsidenten macht der wachsende Frust in Europa Sorgen. Den Vorwurf, Deutschland sei unsolidarisch, weist er zurück.

Der Sender BBC hat in einer Umfrage unter 25 Ländern Deutschland als beliebtestes Land ermittelt. Ist das wegen oder trotz der Kanzlerin so?

Schulz Dass Deutschland grundsätzlich positiv in der Welt gesehen wird, ist ein Ergebnis der Nachkriegsgeschichte. Das Bild von Deutschland hat sich über die Jahrzehnte geprägt, über die Aufbauleistung der Deutschen, die friedliche Wiedervereinigung, sportliche Erfolge und anderes. Viele erfolgreiche Kanzlerschaften in den letzten Jahrzehnten haben auch ihren Beitrag geleistet. Dennoch erlebe ich auf der anderen Seite eine antideutsche Stimmung in manchen Ländern der EU, wie ich sie noch nicht erlebt habe. Wir werden als hartherzig, unsensibel, selbstgerecht und herablassend wahrgenommen. Das hat auch viel mit dem Stil und dem Auftreten mancher Politiker, Wirtschaftsrepräsentanten oder anderer Meinungsmacher zu tun.

Was hat es zu bedeuten, wenn Merkel bei Demonstrationen in EU-Ländern mit Hitler-Bärtchen gezeigt wird?

Schulz Das zeigt, dass es viele Dumme gibt. Angela Merkel mit einem Hitler-Bärtchen zu zeigen, ist ein geistiger Tiefflug. Das weise ich immer und überall massiv zurück. Das ist einfach ungehörig. Die Bundesrepublik Deutschland ist eines der demokratischsten Länder auf der Welt. Wir haben in der Zeit nach der deutschen Einheit gezeigt, dass wir unsere relative Stärke nicht ausspielen, sondern für das gemeinsame europäische Interesse einbringen.

Die deutsche Opposition, auch Ihre SPD, behauptet mitunter, Deutschland sei isoliert in der EU. Richtig?

Schulz Nein. Deutschland ist viel zu einflussreich, um isoliert zu sein. Die Politik der Bundesregierung ist aber umstritten. Denn die Mehrheit in den Brüsseler Institutionen und auch die Mehrheit der EU-Regierungen sind für Wachstums- und Beschäftigungsimpulse und nicht nur für einseitiges Sparen.

Deutschland investiert in den Kampf gegen Jugendarbeitslosigkeit.

Schulz Ja, nach einer Anlaufzeit von fünf Jahren. Frau Merkel hat sich lange dagegen gewehrt, dass die EU den Kampf gegen die Jugendarbeitslosigkeit aufnimmt. Sie fand, dass Europa nicht zuständig sei, sondern dass die Mitgliedsländer selbst handeln müssten.

Ist Deutschland tatsächlich nicht solidarisch genug?

Schulz Die Deutschen verbürgen von den 700 Milliarden Euro an Finanzhilfen für die Banken einen Anteil von 400 Milliarden Euro. Da kann niemand sagen, das sei unsolidarisch. Dennoch haben die Menschen in anderen EU-Ländern den Eindruck, sie würden unter einer deutschen Hegemonie, unter deutscher Dominanz leben. Das liegt an einer Debatte hierzulande, die suggeriert, dass wir besser als andere sind, und daran, dass wir den Krisenstaaten die Instrumente zur Krisenbeseitigung vorenthalten, die wir selbst angewendet haben: Denn wir sind mit der Abwrackprämie und dem Kurzarbeitergeld durch die Krise gekommen. Das hat die deutsche Staatsschuld von 62 auf fast 80 Prozent nach oben getrieben. Das war vernünftiger Interventionismus. Wir können nun aber den anderen Ländern nicht untersagen, eben solche Instrumente einzusetzen.

Welche Bedeutung wird der Bundestagswahl im Herbst in Europa beigemessen?

Schulz Eine große. Ich habe den Eindruck, dass es sogar eine gewisse Stagnation in Brüssel gibt mit Blick auf die deutschen Wahlen. Das ist auch der Beweis dafür, dass wir längst in einer europäischen Innenpolitik leben. Keinem kann egal sein, was in einem anderen Land geschieht.

Was raten Sie der SPD, wie sie ihre Performance im Wahlkampf verbessern kann?

Schulz Die SPD hat eine Chance, die Wahl zu gewinnen, wenn sie es schafft, ihr Wählerpotenzial zu mobilisieren.

Mit dem Kandidaten Steinbrück?

Schulz Ja, klar.

Lässt sich mit einem Millionär der SPD-Wahlkampf für soziale Gerechtigkeit überzeugend führen?

Schulz Peer Steinbrück hat in den letzten Wochen deutlich an Profil gewonnen. Er gewinnt überall an Zustimmung. Die Steuerflucht bewegt die Leute sehr, und bei deren Bekämpfung kann er als ehemaliger Finanzminister richtig punkten. Er hat hier eine hohe Glaubwürdigkeit.

Ist die Anti-Euro-Partei "Alternative für Deutschland" gefährlich für Europa?

Schulz Sie ist zunächst einmal gefährlich für die CDU. Die Leute bei der AfD haben die Kritik an der Konstruktion der Eurozone als einigendes Band, dahinter aber sehr viele unterschiedliche Motive. Es handelt sich vor allem um enttäuschte Konservative, die sich in der CDU nicht mehr zu Hause fühlen. Sie werden vielleicht zwei oder drei Prozent bekommen, aber zulasten der Union.

Sie werden voraussichtlich 2014 als Spitzenkandidat der europäischen Sozialdemokratie antreten. Was ist der Reiz daran?

Schulz In jedem Fall trete ich für die SPD in Deutschland als Spitzenkandidat für die Europawahl an.

Als Spitzenkandidat aller Sozialdemokraten in Europa für die Nachfolge von Kommissionspräsident Barroso hätten Sie doch sicherlich mehr Durchschlagskraft.

Schulz Wir werden einen solchen Kandidaten präsentieren. Wer das wird, legen wir rechtzeitig fest.

GREGOR MAYNTZ UND EVA QUADBECK FÜHRTEN DAS GESPRÄCH.

(qua / may-)
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