Wie evangelisch ist Deutschland?

Der Evangelische Kirchentag in Dresden findet in einer weitgehend entchristlichten Umgebung statt. Auch im Westen sinken die Mitgliederzahlen der Kirchen. Die protestantische Prägekraft ist gefährdet – obwohl jüngst in Deutschland so viel über Evangelisches geredet wird wie lange nicht.

Dresden Diese Revolution kann man nicht sehen. Es ist eine Revolution in den Köpfen und, vielleicht vor allem, in den Herzen. 1950 bezeichneten sich 80 Prozent der Bürger der DDR als evangelische Christen. Heute, sechs Jahrzehnte später, ist es in Ostdeutschland noch etwa ein Fünftel. Katrin Göring-Eckardt, die Präsidentin des gestern begonnenen Evangelischen Kirchentags in Dresden, spricht deshalb davon, die Protestanten seien an der Elbe Minderheit, ja Außenseiter.

Die mathematische Marginalisierung im Osten geht einher mit sinkenden Mitgliederzahlen auch im Westen. War Mitte der 50er Jahre noch mehr als die Hälfte der Bundesbürger Mitglied der evangelischen Kirche, sind es heute noch knapp ein Drittel. Ähnliches gilt für die katholische Kirche, wobei die evangelische schneller schrumpft.

Gleichzeitig aber wird in Deutschland jüngst so viel über Evangelisches geredet wie lange nicht. Der Rat des Protestantismus ist gefragt; keine Kommission, die auch nur entfernt Moralisches zu verhandeln hat, verzichtet auf Kirchenvertreter – zuletzt zu besichtigen bei der "Ethik-Kommission Sichere Energieversorgung", in der (konfessionell paritätisch) gleich zwei Bischöfe saßen.

Noch dazu steht mit der ehemaligen Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Margot Käßmann, in bisher ungekanntem Ausmaß eine protestantische Spitzenvertreterin als Person im Brennpunkt – Käßmann ist für weite Teile des kircheninteressierten Publikums eine protestantische Ikone geworden. In Dresden hat man ein ganzes Stadion für sie reserviert.

Und das Kirchentags-Programm zeigt: Der evangelische Diskussionsbedarf über gerechtes Wirtschaften, Bewahrung der Schöpfung, Krieg und Frieden bleibt groß – der Protestantismus ist dem Staatlichen und seinen Problemen traditionell ohnehin stärker zugetan als der stärker mit sich selbst und mit dem Verhältnis zu Rom beschäftigte deutsche Katholizismus. Mit Wutbürgern ist zu rechnen. Der Kirchentag sei wieder so politisch wie in den 80ern, jubelte bereits der Wittenberger Theologe Friedrich Schorlemmer.

Scheinbar gute Voraussetzungen also. Es könnte aber auch sein, dass der Schein trügt – dass dem evangelischen Diskurs, also dem öffentlichen Reden von Protestanten und über Protestantisches, eine Krise droht. Denn die öffentliche evangelische Präsenz der jüngsten Zeit ist sozusagen nur geborgt. Im einen Fall entsprang sie individuellem Charisma, einem strafbaren Fehltritt und dessen als beeindruckend empfundener Bewältigung – Käßmann fuhr betrunken Auto und trat zurück. Im anderen Fall ergriff die Kirche im Streit um die Laufzeitverlängerung der Atomkraftwerke Partei gegen die Kernenergie – die Frage wurde dann aber ebenso endgültig wie plötzlich nicht argumentativ, sondern durch die atomare Katastrophe in Fukushima entschieden.

Die evangelische Kirche tut sich noch immer schwer damit, Themen zu setzen. Manches versandete, wie die Debatte mit den Muslimen über die Rolle des Islam in der modernen Demokratie. Anderswo wich moralische Zuspitzung ("Nichts ist gut in Afghanistan") fundierteren, "politischeren", aber schwerer zu vertretenden Einsichten – Käßmanns Nachfolger Nikolaus Schneider sagt, er könne nicht eindeutig beurteilen, ob der Afghanistan-Krieg legitim sei.

Schneider hat versucht, die Islam-Debatte neu zu beleben, indem er die Muslime aufforderte, über eine islamische Aufklärung nachzudenken. Eine öffentliche Diskussion hat sich daran nicht entzündet. Und auch beim Lebensschutz ist die Position der EKD komplizierter geworden: Das strikte Nein zur Präimplantationsdiagnostik etwa wurde zu einem "Eventuell" mit strengen Auflagen – ohne dass sich der Rat wirklich auf eine Position geeinigt hätte.

Kann der deutsche Protestantismus so überhaupt die Verdunstung seiner Prägekraft verhindern? Ja, sagt einer, der eine nachkirchliche Gesellschaft bestens kennt: Axel Noack, Altbischof der Evangelischen Kirche der Provinz Sachsen, die 2009 in der Mitteldeutschen Kirche aufging. Von einer "schwer zu fassenden, diffusen Heimat-Religiosität" spricht er. "Mir sagen die Leute: Ich brauche keinen Pfarrer, aber ich bin froh, wenn einer da ist", sagt Noack.

Echter Ablehnung begegne die Kirche im Osten selten – weil heutige Nichtmitglieder meist nicht im Zorn aus-, sondern nie eingetreten seien. In Bauvereinen und Kirchenchören engagierten sich auch viele Nicht-Kirchenmitglieder. Die Minderheiten-Diskussion hält Noack daher für eine "komische Fixierung".

Was der Altbischof beschreibt, ist eine Kirche, deren kulturelle Prägekraft die religiöse weit übersteigt – die damit allerdings auch eher als kultureller Dienstleister gilt denn als Ort des Glaubens. Man sei aber keine bessere Partei und keine Ersatzgewerkschaft, hat Schneider gesagt und versprochen, das evangelische Profil im Reden über Gott zu schärfen – daran hänge die gesellschaftliche Bedeutung der Kirche.

Was also läge näher, als in Dresden über die Rolle der Kirche in einer weithin entchristlichten Umwelt zu sprechen, über Rechristianisierung, vielleicht auch über den aggressiven Atheismus, der in Berlin sein Zentrum hat? Außer einigen randständigen Veranstaltungen: Fehlanzeige.

Bei aller kulturellen Strahlkraft – am Ende entscheiden über kirchliches Leben und Wirken einerseits naturgemäß die Glaubensinhalte, andererseits, da lässt Schneider wenig Zweifel, die Zahlen. Wenn der Anteil der Christen in Deutschland unter 50 Prozent sinke, werde es schwierig, das Kirchensteuer-System zu rechtfertigen, hat er bereits gesagt. Hält der Trend an, dürfte es um das Jahr 2030 so weit sein.

(RP)
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