Wie eine Deutsche fühlt

Mit der ersten Nachricht vom Erdbeben in Japan wache ich auf. Es ist Freitag früh, die Sonne scheint. Dazu auch noch ein Tsunami, höre ich wenig später. Und Millionen von Erinnerungsbildern durchfluten sekundenschnell mein Gehirn. Das Wort Tsunami habe ich wie die meisten Deutschen erst vor sieben Jahren gelernt, seine tödliche Konnotation begriffen. Mehr als 200 000 Menschen sind damals, 2004, bei der Monsterwelle von Phuket ums Leben gekommen, viele Touristen, auch der Freund meiner Freundin Ulrike. Das war die schlimmste Naturkatastrophe in der Zeitrechnung meines Lebens. Jetzt also Japan. Genauso schlimm, noch schlimmer?

Die ersten SMS: Hast du schon vom Erdbeben in Japan gehört? Furchtbar, oder? Selbst die Stimme des Nachrichtensprechers klingt verändert, zurückgenommen. Unheil verkündet man in gedämpftem Ton. Ich drehe die Lautstärke hoch, Gänsehaut. Die Härchen auf den Armen stellen sich hoch. Schnell zu Hause angerufen, vergewissernd, "alles in Ordnung?", "ja – nein, furchtbar!" Im Büro nur ein Gesprächsthema, im Laden, an der Tankstelle, beim Sport, im Restaurant. Die Frage "Wie geht es dir?" hat ihre Unschuld verloren. Niemand sagt mehr reflexhaft "gut!". Man zögert, verdreht die Augen, weiß etwas von seinem persönlichen Schrecken mitzuteilen, fast jeder seufzt: "Die armen Menschen!"

Statt Entwarnung Eskalation: Die Nachrichten aus Japan überschlagen sich. Ein Atommeiler explodiert. Eins zu eins ist man dabei, kann sich den GAU bei einer Tasse Kaffee live auf dem Bildschirm anschauen. Wie gebannt verfolge ich den ganzen Samstag "Breaking News", Bilder von Geschehnissen, die man bisher nur aus Horrorszenarien kennt oder aus Alpträumen. Bilder, die nie wahr werden sollten. Guck doch nicht pausenlos diese traurigen Nachrichten, sagt mein Mann.

Wie ein Unglück die Welt verändert! Weit weg und doch so nah. Bald steigt die Angst in uns auf. Dass wir alle radioaktiv verseucht werden. Dass unsere Kinder keine Zukunft haben. Dass die Erde auseinanderbricht und wir Schuld daran haben. Atomarer Schrecken ist eine neue Gefühlsqualität. Geht durch Mark und Bein, der Mensch schwächelt. Die Erdachse ist verschoben. Archimedes hatte gesagt: "Gebt mir einen festen Punkt im All, und ich werde die Welt aus den Angeln heben."

Der Alltag will nicht wieder Alltag werden, die Nachrichteninhalte kommen herüber wie von apokalyptischen Reitern überbracht. Mein Nachbar sorgt sich um die Zukunft, der Vater von vier Kindern bittet seine Frau, Vorräte anzulegen, unbestrahlten Thunfisch und vor allem Fischstäbchen.

(RP)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort