Wie ein Japaner fühlt

Wir Japaner sind stolz auf unser Land. Auf die Schönheit seiner Natur. Auf unsere Städte – so voll von Leben und reich an Kultur. Wir wissen seit Jahrtausenden, dass die Erde, auf der sich all diese Schönheit und die Schätze unserer Nation befinden, immer in Bewegung ist. Wir sind von klein auf gewarnt, dass der Boden unter unseren Füßen schwanken kann. Wir haben trainiert, wie man sich schützt. Wie man überlebt, wenn Glas splittert und Steine herabfallen. Unsere Häuser sind so erdbebensicher gebaut wie sonst nirgendwo auf der Welt. Wir haben gedacht, wir wären vorbereitet.

Aber als ich am vergangenen Freitag um 14.45 Uhr in meinem Büro im Tokioter Stadtteil Marunouchi saß und das Beben begann, war die Sicherheit, in der ich mich all die Jahre gewiegt hatte, verschwunden. Zuerst war da nur ein ungläubiges Staunen. Dann kam die Angst. Todesangst. Ein solch starkes Beben hatte ich noch nie erlebt. Ich dachte: Das war's.

Meine Gedanken gingen zu meiner Familie, zu meiner Frau, meinen Kindern. Das furchtbare Schwanken hörte nicht auf. Es dauerte viel länger als das Beben 1995 in Kobe. Die Stadt hatte es damals schwer getroffen. Die Bilder von Trümmern und Feuer stiegen in diesen Sekunden aus meiner Erinnerung wieder herauf. Es waren schreckliche Bilder, aber das, was ich an jenem Freitag gesehen habe, ist weitaus grauenhafter: die Gewalt, mit der das Wasser über unser Land hereingebrochen ist. Die Bilder von der Flut haben eine neue Qualität des Schreckens. Und der Angst, radioaktiv verstrahlt zu werden, wohnt eine neue Dimension der Furcht inne.

Japaner haben viel Sinn für Ordnung und Ästhetik. Chaos und Zerstörung treffen sie härter, als sie sich das anmerken lassen. Auch an jenem Freitag haben die Menschen ihre Fassung bewahrt. Es gab kaum Panik. Wenn ich aus meinem Büro-Fenster auf Tokio schaue, scheint alles normal. Ein Kollege aus Indien, mit dem ich eigentlich zum Abendessen verabredet war, sagte, für ihn sei es unfassbar: Wenn ein solches Beben in seinem Land passiert wäre, stünde dort kein Stein mehr auf dem anderen.

Doch mit einem so schweren Tsunami hat hier niemand gerechnet. Das ist der eigentliche Schock, unter dem Japan jetzt steht. Wir denken an die vielen Menschen, die alles verloren haben, sogar ihr Leben. Wir denken daran, wie glücklich wir sein können, dass wir selber leben. Aber wir schweben noch immer in großer Gefahr. Wer weiß, welche Schrecken uns in diesen Tagen noch bevorstehen?

Wir sind ein zähes Volk. Wir werden die zerstörten Landstriche wieder aufbauen. Das wird, fürchte ich, sehr lange dauern.

(RP)
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