Jerusalem Welle religiöser Gewalt erschüttert die Israelis

Jerusalem · Fanatische Juden attackieren Christen, Palästinenser und Homosexuelle. Ein Aufschrei ist die Folge.

Israel, der jüdische Staat, sieht sich derzeit mit einer besonderen Gefahr konfrontiert: Gewalttaten im Namen des Judentums. Drei Tage nach der Messerattacke während der Jerusalemer Homosexuellen-Parade ist die 16-jährige Schira Banki gestern ihren Verletzungen erlegen. Die junge Frau ist Opfer des ultraorthodoxen Fanatikers Ischai Schissel, der am Donnerstag innerhalb von Sekunden sechs Menschen verletzt hatte.

Das Attentat in Jerusalem war bereits die dritte Tat innerhalb weniger Wochen: Mitte Juni war ein Teil des Benediktinerklosters Tabgha am See Genezareth durch einen Brandanschlag zerstört worden; angeklagt sind zwei extremistische jüdische Siedler. Und am Freitag starb in dem palästinensischen Dorf Duma im Westjordanland der eineinhalb Jahre alte Ali Dawabsche - militante jüdische Siedler hatten das Haus der Familie angezündet.

Tausende Israelis protestierten am Wochenende in verschiedenen Städten gegen religiöse Gewalt. In Tel Aviv sprach ein Onkel des kleinen Jungen zu den Demonstranten über die Familie seines Bruders. In Jerusalem trat Staatspräsident Reuven Rivlin auf und sagte, dass er sich schäme. "Jede Gesellschaft hat extremistische Ränder, aber heute müssen wir uns fragen: Was ist es, was hier in der Luft liegt, das es Extremismus und Extremisten erlaubt, unbesorgt im hellen Tageslicht zu wandeln?", sagte Rivlin und drang auf harte Maßnahmen gegen radikale Juden.

Hinter den Gewaltverbrechen stehen fromme jüdische Fanatiker; trotzdem gehören sie völlig unterschiedlichen Lagern an. Zwar wohnt Schissel in einer Siedlung im Westjordanland, dorthin trieben ihn aber nicht ideologische Motive. Sein Heimatort soll Ultraorthodoxen billigen Wohnraum bieten. Schissel ging es um die religiösen Gebote, die Homosexualität verurteilen. Die Angreifer in Duma stammen dagegen aus dem national-religiösen Siedlerlager, die für "Eretz Israel" kämpfen - ein Groß-Israel vom Mittelmeer bis zum Jordan.

Für die Demonstranten in Tel Aviv, überwiegend aus dem linken Bildungsbürgertum, dürfte das keinen großen Unterschied bedeuten - ebenso wenig wie die Frage, ob die Opfer homosexuell waren, Christen oder Palästinenser. Viele der Menschen trugen Handschuhe, die sie aus Protest gegen die Messerattacke in Jerusalem mit roter Farbe beschmiert hatten. In Jerusalem galt die Kundgebung in erster Linie der Solidarität mit den Homosexuellen. Die orthodoxen Rabbiner, die an der Versammlung am Tatort teilnahmen, richteten ihre Botschaft auch an die eigenen Gemeinden.

In beiden Fällen hätten die Angriffe für den Sicherheitsapparat erwartbar sein müssen. Vor allem die Wiederholungstat Schissels, der erst vor wenigen Wochen aus der Haft wegen eines ähnlichen Überfalls entlassen worden war, wirft ein trauriges Licht auf die Polizei. Schissel hat seine Tat nie bedauert und hetzte unverändert weiter gegen die Homosexuellen. Israel gilt in seinen Familienrechten als besonders progressiv; trotzdem waren vor sechs Jahren drei junge Homosexuelle bei einem Schussüberfall in Tel Aviv getötet worden.

Auch im Westjordanland sind die Radikalen längst bekannt, zum Beispiel die Gruppe "Preisschild", die Palästinensern immer dann ihre "Quittung" präsentiert, wenn die eigene Regierung für Siedler unbequeme Entscheidungen trifft. Unter den jüdischen Extremisten kursieren schriftliche Anleitungen zur Brandstiftung, in denen offen davon die Rede ist, dass "Sachschaden manchmal einfach nicht reicht". In einer Stellungnahme zur Brandstiftung in Duma berichtete die Palästinensische Befreiungsorganisation über 11 000 Überfälle seit 2004. Nur ein Bruchteil davon konnte aufgeklärt werden.

Die Attacken lösten auch neuen politischen Streit aus. Palästinenserpräsident Mahmud Abbas, der in Ramallah eine Delegation der linken israelischen Liste Meretz empfing, machte Israels Regierungschef für die Gewalt verantwortlich. "Benjamin Netanjahu wünscht sich eine neue Intifada", sagte Abbas, also einen massiven palästinensischen Aufstand. Im Westjordanland gab es einzelne Zusammenstöße.

Die israelische Regierung will den Kurs gegen jüdische Extremisten verschärfen. Inhaftierungen im sogenannten Behördengewahrsam, der bisher vor allem gegen Palästinenser verhängt wurde, könnten in den Ermittlungen auch bei Israelis angewandt werden, sagte ein Sprecher von Verteidigungsminister Mosche Jaalon. Das gelte auch für künftige Fälle, die ähnlich gelagert seien.

Netanjahu selbst kündigte "null Toleranz" gegen Hassverbrechen an. "Wir sind entschlossen, mit aller Kraft gegen das Phänomen des Fanatismus und des Terrorismus von jeglicher Seite anzukämpfen", sagte er. Auch Israels Oberrabbiner David Lau verurteilte den Angriff in Jerusalem: "Es handelt sich um eine sehr schwerwiegende Tat. Jedem ist klar, dass dies nicht dem Weg der Thora und des Judentums entspricht."

(RP)
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