Analyse Was wir aus Afghanistan lernen müssen

GAstbeitrag Führende Militärexperten beklagen schwere organisatorische und inhaltliche Mängel beim größten Einsatz der Bundeswehr, der Intervention in Afghanistan. Gravierend sei auch die verspätete Suche nach einem Versöhnungskonzept gewesen.

Isaf, die International Security Assistance Force in Afghanistan, der bislang umfangreichste internationale Einsatz nach militärischer Intervention, ist im Dezember 2014 zu Ende gegangen und wurde abgelöst von der deutlich kleineren Nato-"Trainingsmission" Resolute Support, die eigentlich dieses Jahr schon auslaufen sollte, nun aber auf unbestimmte Zeit verlängert wurde. Aber bis heute liegt kein umfassender Evaluationsbericht der Nato oder eines einzelnen großen Bündnispartners vor. Was lernen wir für künftige zivil-militärische Bündnisinterventionen in Konfliktgebieten? Auf einem Workshop mit hochrangigen deutschen Experten aus allen Bereichen wurde - im vertraulichen Rahmen - auf eine besonnene, aber entschiedene Weise Klartext geredet.

Zu den wichtigsten Aspekten der Bundeswehrdiskussion - hier in Stichworten - gehört die Klärung von populären Fehlwahrnehmungen: Die Bundeswehr führt keine nationale Operation durch, es geht immer um Einordnung ins und Einfluss im Bündnis. Am Anfang eines militärischen Engagements sind Stärke und Tempo entscheidend, auf Dauer Geduld und ein langer Atem - vor allem aber klare Ziele und Kriterien für Fortschritt und Erfolg.

Mandatsobergrenzen sollten nicht zu früh festgelegt werden. Und sie sollten flexibel genug sein, um auch auf extreme Lageänderungen reagieren zu können. Verantwortungsvoller militärischer Ratschlag an die Politik sollte im Übrigen nicht von vorauseilendem Gehorsam geprägt sein.

Gerade in asymmetrischen Szenarien sind Luftbeweglichkeit und Präsenz in der Fläche, Nachrichtengewinnung und modernste Aufklärungsmittel überlebenswichtig; Informationen müssen gebündelt und mit den Partnern geteilt werden. Sonst reist man "mit dem U-Boot durch Afghanistan", wie ein Kommandeur der Isaf, US-General Stanley McChrystal, einmal schrieb. Allerdings: Die Isaf-Mission folgte in Abhängigkeit von der Lageentwicklung in verschiedenen Phasen ihrer 13 Jahre unterschiedlichsten Zielen und Rationalitäten - was nicht unproblematisch war.

Auftrags- und Zielklarheit waren auch ein Problem für den sogenannten vernetzten Ansatz, also für das ressortübergreifende Zusammenwirken von zivilen Kräften aus den Bereichen der Bundesministerien für Entwicklungszusammenarbeit, Äußeres und Inneres sowie NGOs (Nichtregierungsorganisationen) mit der Bundeswehr. Das zivile Personal blieb immer knapp, von Beamten des Auswärtigen Amtes bis zu Polizeiausbildern, und die zivilen Mittel standen lange in einem bemerkenswerten Missverhältnis zum militärischen Aufwand. GOs, aber insbesondere NGOs und erst recht die Organisationen der humanitären Hilfe fürchteten eine Vereinnahmung durch das Militär.

Militärische Instanzen fühlten sich dagegen durch manche NGOs stigmatisiert.

Bei der ressortgemeinsamen Zusammenarbeit, etwa in den Provincial Reconstruction Teams (regionale Wiederaufbauhilfe), wären eine regelmäßige gemeinsame Einsatzvorbereitung, gemeinsame Doktrindokumente und gegebenenfalls ein gemeinsamer Planungsstab wünschenswert gewesen.

Auch das technische Miteinander-reden-Können, das heißt Gemeinschaftsfunk, blieb der individuellen Improvisation vorbehalten.

Schließlich die Gretchenfrage: Wer führt? Und was bedeutet in diesem zivil-militärischen Zusammenwirken eigentlich "Führen"? Für die Erfahrungen mit dem internationalen comprehensive approach, dem ganzheitlichen Ansatz, gilt die gleiche Leitfrage: Welches Ziel, welche grand strategy, wurde da von Nato und internationaler Gemeinschaft gemeinsam und gleichzeitig verfolgt? Warum wurden Nachbarn wie Pakistan, China oder Iran nicht von Anfang an einbezogen? Wie wurden afghanische Gesellschaftsstrukturen berücksichtigt? Warum gab es nicht von Anfang an ein Versöhnungskonzept, sondern erst nach vielen Jahren die Suche nach "gemäßigten Taliban"?

Einsatz und guter Wille waren enorm. Auf dem Höhepunkt des amerikanischen Engagements gaben die USA 100 Milliarden Dollar im Jahr allein für ihre militärische Präsenz aus, so viel wie das Bruttoinlandsprodukt kleinerer europäischer Volkswirtschaften. Es gab unter Nato-Kommando zeitweise 50 truppenstellende Nationen. 80 Staaten waren beim zivilen Aufbau mit unzähligen Organisationen behilflich. Alle brachten Opfer. Tausende Soldaten, auch Entwicklungshelfer, Polizisten und Freiwillige ließen ihr Leben in Afghanistan, Zehntausende kehrten verwundet an Körper und Seele nach Hause zurück, auch Deutsche. Viel bitterer noch traf es die Afghanen selbst, bis heute.

Ein so großer Einsatz wie Isaf muss künftig wesentlich besser koordiniert und geführt werden. Auf den Punkt brachte es der Regionalbefehlshaber eines europäischen Bündnispartners: "Wer war mein Boss? Der US-Botschafter in Kabul? Die afghanische Regierung? Der Isaf-Kommandeur? Der Nato-Befehlshaber in Brunssum? Der US-Befehlshaber von Centcom in Tampa? Meine nationale Regierung? Jemand von der Uno?"

In der Bundeswehr-internen "Nachbetrachtung" der Isaf-Jahre sticht ein Satz besonders heraus: "Die Bundeswehr hat sich mit dem und durch den Einsatz in Afghanistan stark verändert." Zu den Lehren aus Afghanistan gehört ganz gewiss, dass Ausbildung, Personalstruktur und Ausrüstung auf der Höhe der Zeit sein müssen, qualitativ und quantitativ. Nicht irgendwann, sondern jetzt.

Die heutige Bundeswehrgeneration muss die wachsenden heutigen Bundeswehraufgaben tatsächlich erfüllen können - auch unter Berücksichtigung der wieder ernster zu nehmenden Fähigkeit zur kollektiven Verteidigung in Europa. Kein Einsatz gleicht dem anderen. Aber aus jedem lässt sich lernen.

(RP)
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